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Moving Borders

Thinking (about) Global Migration: Together & Beyond Borders and Across Continents

Im Rahmen des Seminars “Thinking (about) Global Migration – Together, Beyond Borders and Across Continents” bearbeitet diese Storymap das Thema “Moving Borders“. Die Storymap soll erläutern, dass es sich bei Grenzen keinesfalls um starre Konstrukte, sondern um dynamische Gebilde handelt. Zunächst wird die Variabilität und Mehrdimensionalität von Grenzen im historischen Kontext betrachtet. Fortführend wird eine Gesamtbetrachtung der EU-Außengrenze vorgenommen, die einen besonderen Fokus auf die Externalisierung legt. Zur weiteren Beleuchtung der Thematik werden die abstrakten inneren Grenzen dargelegt. Ein besonderes Augenmerk der Storymap gilt dabei dem Verhältnis von Grenzen und Migranten:innen.


Die europäischen Außengrenzen im Wandel

Wenn die Rede von Grenzen ist, fällt zunächst der Fokus auf die territoriale und geopolitische Unterteilung der Welt. Von großflächigen Kontinenten bis zu kleinsten Verwaltungseinheiten privater Grundstücke; sie alle werden von festgelegten Grenzen getrennt. Doch Grenzen lassen sich nicht nur im rein territorialen Kontext, sondern auch im anthropologischen oder wirtschaftlichen Zusammenhang beobachten. Versteht man nun den Begriff Migration nach seiner Übersetzung aus dem Lateinischen als Wanderung über eben diese Grenzen, stellt sich die Frage nach der Entwicklung und dem Wandel der verschiedenen Dimensionen einer Grenze und inwiefern sich diese auf das Migrationsgeschehen auswirken.

Um die Entstehung und den Wandel heutiger Grenzen skizzieren zu können, ist zunächst ein Blick auf die historischen Gegebenheiten sinnvoll. So kamen den Kontinenten, die in der Antike in der Regel auf Basis bedeutender geographischer Gegebenheiten, wie Gebirge oder Wasserwege, getrennt wurden, kaum kulturelle Bedeutung zu. Es blieb bei einer reinen geophysischen Unterteilung (Wintle 2021:33). Dieser Sachverhalt änderte sich in der Renaissance im Zusammenhang mit der Entdeckung und Erkundung neuer, bisher unbekannter Gebiete, wie beispielsweise dem amerikanischen Kontinent. Ein gemeinsames europäisches und homogenes Selbstverständnis bildete sich als Folge des Kennenlernens neuer und aus europäischer Sicht andersartiger Kulturen heraus, womit den zuvor rein geophysischen Grenzen eine weitere ethnische Dimension zukam (2021:34). Ein weiterer Schritt der europäischen Grenzbildung und -verschiebung stellt im 18. und 19. Jahrhundert die Herausbildung moderner Nationalstaaten dar. Innereuropäische Grenzen zwischen diesen Nationalstaaten definieren sich grundsätzlich aus Abgrenzungen sprachlich-kultureller und ethnischer Gruppierungen untereinander, wodurch ein gemeinsames kleinräumiges Identitätsverständnis innerhalb dieser Nationalgrenzen einsetzt. Ein verstärktes Konkurrenzdenken setzt ein und eine Epoche der Grenzstreitigkeiten folgt (Schmieder 2021:32).

Europäische Grenzen im Vergleich: 1500 n. Chr. und heute: Fraczek, Witold (2017)

Diese haben verschiedene Charaktere – von religiösen Interessen über territoriale Machtgewinne bis zu wirtschaftlichen Interessen. Gemeinsam haben sie jedoch alle, dass jeweils versucht wird, dem eigenen Volk innerhalb der eigenen Grenze Vorteile gegenüber Gruppen außerhalb der Grenzen zu ermöglichen. Im Bezug auf historische Migrationsbewegungen ist besonders hervorzuheben, dass durch diese Art der Grenzbildung eine Zugehörigkeit einer Person zu einer Nation durch einige wenige Kriterien festgelegt ist. Im selben Maße zeigt sich aber auch, dass jede Person, die nicht den grenzbildenden Kriterien entspricht, keine Ansprüche auf die jeweilige Nationalzugehörigkeit besitzt. Die Grenzziehung zeigt sich also als einflussgebender Faktor auf eine Gesellschaft, während diese im gleichen Maß die Gesellschaft definiert. Concha Maria Höfler und Maria Klessmann bezeichnen dieses Konzept als Ethnisierungsprozess einer Grenze (2021:334). Durch eben diese Ethnisierung ist auch die Grundlage für die Ausgrenzung von Gruppen innerhalb der jeweiligen Grenzen geschaffen. Wie durch Gilliéron beschrieben, versteht sich die Nation als eine kulturelle und homogene Gemeinschaft. Der Zugang zu Bürgerrechten basiert allein auf ethnischen Merkmalen und somit ist keine Definition der Bürgerrechte notwendig (2015:111). Hier kristallisiert sich die Problematik heraus, dass eben jene Gruppen, die nicht den ethnischen Merkmalen entsprechen, keinen Zugang zu Bürgerrechten besitzen. Besonders verschiedene Sprach- und Religionsgruppen wurden durch dieses Argument Opfer von Vertreibungen. Mit der steigenden Mobilität und dem wachsenden Wissensfluss im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es erneut zu einer Verschiebung der europäischen Wahrnehmung. Europa wurde zunehmend als ganzheitlicher, geschlossener Kontinent wahrgenommen. Wie schon in den vorherigen Entwicklungen zeigt sich auch hier eine steigende Wahrnehmung der benachbarten Kontinente als andersartig (Athenas 2021:91). Große Migrationsbewegungen entstehen in den kontinentalen Grenzgebieten. Konflikte wie die Balkankriege zwischen 1912 und 1913 oder den immer wieder im Laufe des Jahrhunderts aufkommenden Russischen Türkenkriegen führen zu neuen Grenzziehungen, welche ethnische Bevölkerungsgruppen zur Umsiedlung zwingen (Münz 2002:7).

Gleichzeitig ist jedoch am Anfang desselben Jahrhunderts durch die steigende Mobilität auch eine neue Dimension der Grenzen zu beobachten. Die Welt globalisiert sich zunehmend und ebnet so einem erweiterten Handel auf globaler Ebene den Weg. Handelskosten können fallen und die so steigenden Preisanreize ermöglichen einen Grenzüberschreitenden Handel, wodurch den Grenzen eine ökonomische Dimension hinzukommt. Durch den nun möglichen Zugriff auf vorher nicht vorhandene Güter, zeigt sich einerseits eine Spezialisierung verschiedener Nationen auf bestimmte Güter, andererseits aber auch eine nun stärkere ökonomische Konkurrenz, die eine globale Standardisierung des Handels zur Folge hat. Diese Ökonomisierung der Grenzen ermöglicht neue Migrationsströme, die besonders durch wirtschaftliche Vorteilsgesuche und Nachteilsausgleiche geprägt sind (Hungerland & Teupe 2021:392). Ein Beispiel hierfür ist die erste deutsche Auswanderungswelle zwischen 1824 und 1830 in den Süden Brasiliens. Die deutschen Auswanderer versprachen sich eine verbesserte wirtschaftliche Lage mit fruchtbarem, landwirtschaftlichen Großgrundbesitz, während die brasilianische Regierung durch die Ansiedlung der Deutschen die Lebensmittelversorgung vor Ort sicherstellen konnte (Seyferth 2011:740). Auch im kleinen Maßstab innerhalb der europäischen Nationalgrenzen und zwischen den verschiedenen europäischen Nationen lassen sich solche wirtschaftlichen Migrationen beobachten. Die konkrete Folge ist ein deutliches Verschwimmen der bisher ethnisch definierten Grenzen. Eine ethnische Zugehörigkeit legitimiert nicht länger die Grenzziehung, wodurch eine Sozialisierung der Grenzen und damit eine Neudimensionierung notwendig wird. Über die Herkunft hinausgehend sind nun auch Leistungen und Bewährungen eine Grundlage der Nationalzugehörigkeit. Popitz argumentiert, dass ein Prinzip der Vergesellschaftung eine neue Grenzziehungsgrundlage bildet. Wer Leistungen für die Gesellschaft erbringt, kann Leistungen von der Gesellschaft erwarten und ist somit ein Mitglied dieser (1995:126). Wichtig an dieser Stelle hervorzuheben ist die Tatsache, dass die Mitglieder einer Gesellschaft nicht mehr anhand sichtbarer Merkmale zugeordnet werden können und somit die Grenzen zwischen Gesellschaften in eine abstrakte Ebene eingehen. Zwar zeigt sich die reine geophysische Grenze zu einem staatlichen Territorium nun als transparent und einfach überquerbar, die neu dazu gekommene soziale Zugehörigkeitsgrenze dafür aber als unüberwindbarer. Gleichzeitig erweitert sich hier das bisher starre Grenzverständnis auf ein dynamisches, nicht greifbares Gebilde. Die Funktion der Grenze, egal in welcher Dimension bleibt jedoch dieselbe: Die Selektion an ihnen mit geregelten und kontrollierten Übergängen in Räume, die nur gewissen Personen oder Gruppen offenstehen, um Sicherheit zu gewährleisten. Systeme, die zur Selektion erschaffen werden, formen die Grenzen, während die Grenzen wiederum die Gesellschaft definieren. Eine ständige Wechselwirkung existiert (Schroer 2021:53).

Gerade im Zuge der Grenzziehung als Form der Sicherheitsgewährleistung sind die neuen Grenzverläufe nach jeweils dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhundert hervorzuheben. Unabhängig davon, wie die Grenzen konkret verliefen, kamen Territorien besonders machtpolitische, wirtschaftliche und geopolitische Bedeutungen zu. Manche Nationen konnten ihre Unabhängigkeit von anderen erklären, wie etwa die Unabhängigkeit Finnlands vom bis dahin bestehenden Russischen Reich 1917, während weitere Nationen in Abhängigkeit fielen, wie beispielsweise die Bildung der Sowjetunion mit Übernahme bisher souverän bestehender Staaten. Zusätzlich wurde im Konsens der Siegermächte versucht eine politische Ordnung zu schaffen, die die neu entstandenen Staaten und die bereits bestehenden in ein Gleichgewicht bringen sollte. Zweck hierzu war die Neu- oder Rückvergabe verschiedener Gebiete wie Elsass-Lothringen, Schlesien oder Posen. Ein zusätzliches Mittel war die direkte politische Einflussnahme auf die innerpolitischen Pläne verschiedener Nationen. Beispiele hierfür sind die Untersagung einer Österreichisch-Deutschen Vereinigung nach dem Ersten Weltkrieg und die Besetzung Deutschlands durch die Nationen USA, England, Frankreich und die Sowjetunion. Die Gemeinsamkeit all dieser verschiedener Maßnahmen ist eine Neuziehung verschiedener Grenzen, die aus einer mehrheitlich politischen Sicht definiert werden, ohne den sozialen Dimensionen Beachtung zu schenken. Nach den kriegsbedingten starken Fluchtbewegungen von Flüchtenden, die dem Kriegsgeschehen entkommen wollten, wurden auch durch die neuen Grenzziehungen systematische Vertreibungen ermöglicht. Politisch motivierte Grenzverschiebungen schlossen nun Angehörige anderer Gesellschaften zu einer neuen Gesellschaft ein, was besonders im Kontext der Weltkriege nicht mit dem Sicherheits- und Nationalverständnis der bestehenden Nationen übereinkam. Ein Beispiel hierfür ist die staatlich unterstützte Vertreibung der Bevölkerungsgruppen aus Schlesien und Posen. Aufgrund von Grenzverschiebungen verloren Menschen ihre Legitimität als Bürger:Innen und wurden zur Flucht gezwungen (Mortensen 1956:267).

Die wohl wichtigste Grenzentwicklung nach dem zweiten Weltkrieg stellt jedoch zunächst die globale Grenzziehungen im aufkommenden Ost-West-Konflikt dar. Mit dem direkten Aufeinandertreffen verschiedener Interessen in Mitteleuropa kam es zu einer mehrheitlich klaren Trennung auf verschiedenen Ebenen. Neben rein territorialen Grenzziehungen, die besonders in der Teilung Deutschlands auch physisch vorhanden waren, sind besonders die Trennungen zwischen grundsätzlich verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen mit ihren Idealen hervorzuheben. Erneut zeigt sich hier ein Zusammenrücken untereinander der verschiedenen Staaten verursacht durch das Bewusstwerden einer andersartigen Gesellschaftsordnung. Als verstärkender Faktor zeigt sich hierbei das Verlangen nach Sicherheit im Zuge des Kalten Krieges und die Furcht vor einem erneuten Ausbruchs eines offenen, globalen Krieges. Zusätzlich zu einem stärkeren politischen Zusammenrücken, wurde auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit gefördert und die Grundsteine für die Europäische Union wird gelegt (Bundeszentrale für politische Bildung 2009).

Hier lassen sich grundlegende Festlegungen zur heutigen EU-Außengrenze finden. Um die innereuropäische, wirtschaftliche Zusammenarbeit zu vereinfachen und zu stärken, wird am 14. Juni 1985 das Schengen-Abkommen verabschiedet. Um einen einheitlichen Raum ohne Grenzkontrollen im Binnenland zu schaffen, wird eine Politik zum Schutz der Außengrenzen standardisiert. Die Festlegungen zur europäischen Grenzkontrolle lassen sich in 5 Abschnitte einteilen. Zunächst wird ein Schengener Grenzkodex eingeführt, der Vorschriften festlegt, nach welchen Personen an den EU-Außengrenzen und gegebenenfalls an Binnengrenzen kontrolliert werden müssen. Um diese Kontrollen zu vereinfachen und zu beschleunigen werden 2 weitere Punkte entwickelt. Diese beinhalten ein digitales Schengener Informationssystem in Form einer Datenbank zur digitalen Erfassung von Personen und ein Einreise- und Ausreisesystem, das Grenzkontrollen vollständig digitalisieren soll. Zusätzlich zu diesen Kontrollsystemen wird neben einem Fond zur Kostenunterstützung der Länder mit Außengrenze die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, genannt Frontex, eingeführt.  Diese besitzt die Aufgabe die EU-Außengrenzen zu überwachen und mögliche Sicherheitsbedrohungen zu erkennen (Europäisches Parlament 2021:3ff.). Erneut lässt sich hier eine weitere Dimensionierung der Grenzen erkennen. Neben einer territorialen, sozialen und wirtschaftlichen, kommt der Grenze nun auch eine digitale Dimension zu. Wird eine Person einmal im digitalen Erfassungssystem mit ihren biologischen Daten aufgenommen, kann ihre freie Bewegung im europäischen Binnenland entweder deutlich vereinfacht, aber gleichzeitig für Personen, die kein politisch definiertes Recht auf Freizügigkeit besitzen, erschwert bis verhindert werden.

Problematisch zeigt sich dies besonders durch eine gewisse politische Willkür der Verweigerung einer Einreise in die EU aus Drittstaaten. In Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN beschreiben die Vereinten Nationen, dass jeder Mensch, der Opfer von jeglicher Art von Verfolgung ist, das Recht auf Asyl besitzt. Zusätzlich dazu wird in Artikel 15 jedem das Recht, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln, zugesagt (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN 1984:3). Paradox zeigt sich hier, dass durch das im Schengen-Abkommen definierte System zum Schutz der europäischen Außengrenzen eben jene Rechte, auf denen die EU aufbaut, unterschiedlichen Menschen verwehrt werden. Ein weiterer Kritikpunk zeigt sich im Dublin-System, dass Asylsuchende rechtlich dazu verpflichtet sind ihren Asylantrag im Land ihrer Ankunft zu stellen. Einerseits wird hier Druck auf die EU-Außenländer mit teilweise überfüllten Kapazitäten ausgeübt, während andererseits den Asylsuchenden eine freie Landeswahl innerhalb der EU nicht ermöglicht wird (Meyerhofer et al. 2014:152). Durch die digitale Dimension der Grenzen wird die Freizügigkeit der Asylsuchenden innerhalb der EU deutlich beschränkt. Zwar hat die asylsuchende Person die europäische Außengrenze überqueren können, es ist ihr aber nicht erlaubt die Binnengrenzen zu überqueren und sie steht vor erneuten unüberwindbaren Grenzen. An diesem Punkt lässt sich die Beweglichkeit von Grenzen in Abhängigkeit der eigenen Person verdeutlichen. Eine Person, die die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats der Europäischen Union besitzt, steht vor weitestgehend transparenten und offenen Grenzen. Sie besitzt Freizügigkeit im gesamten Gebiet und hat die Möglichkeit auf freie berufliche Ausübung. Für eine asylsuchende Person dagegen bewegt sich nach Überquerung der EU-Außengrenze ihre persönliche Grenze der Freizügigkeit. Auch das Recht auf freie Berufsausübung wird ihr verwehrt. Hinzu kommt, dass sich die persönliche Grenze nach Ablehnung des Asylantrags für die asylsuchende Person erneut verschieben kann. Wird der Antrag und auch eine mögliche Klage gegen diese Entscheidung abgelehnt, wird die asylsuchende Person zur Ausreise aufgefordert. Ihr bleibt also nur das Verlassen des europäischen Raums oder der Versuch eines illegalen Aufenthalts. In beiden Fällen verschiebt sich die persönliche Grenze für den asylsuchenden und die europäischen Außengrenzen verschieben und verdichten sich erneut.

Es zeigt sich, dass Grenzen keinesfalls starre und unüberwindbare Gebilde der territorialen Begrenzung sind. Sie sind ein Resultat politischer, sozialer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Gegebenheiten. Sie besitzen eine mehrdimensionale Komplexität, die aus einer historischen Entwicklung, wie auch aktueller Ereignisse hervorgehen. Gleichzeitig ist zu beachten, dass Grenzen zusätzlich eine persönliche Komponente besitzen. So ist ihre Durchlässigkeit und sogar ihr Vorhandensein immer in direkter Abhängigkeit der Person, die ihr gegenübersteht.


Die (externalisierte) Außengrenze der Europäischen Union und wie sie sich bewegt

Das Phänomen der moving border ist in Grenzräumen allgegenwärtig. Dennoch ist es außerhalb der border studies nicht allzu bekannt und erscheint auf den ersten Blick kompliziert. Denn wie kann sich eine Grenze bewegen? Dieser Teil StoryMap widmet sich dieser Frage mit Blick auf die Bewegung der südlichen EU-Außengrenze.

Grenze und moving border. Was bedeutet das eigentlich?

Um das Konzept der beweglichen Grenze, der sogenannten moving border, genauer zu betrachten, sollte zunächst der Begriff „Grenze“ in diesem Kontext definiert werden.

In diesem Fall handelt es dabei nicht um die politische Grenze zwischen zwei Staaten oder anderen Verwaltungseinheiten, die diese voneinander abgrenzt und den Geltungsbereich ihrer Rechtsordnung definiert. Eine solche Grenze ist ohne Grenzarchitektur (z.B. Grenzzäune- oder Mauern) oder Grenzhandlungen (z.B. Kontrollen) nicht zu erkennen und hat daher auf das sie überquerende Individuum in diesem Moment keinen Effekt.

Hier handelt es sich vielmehr um die Grenze, die durch die Handlungen verschiedener Akteure geschaffen wird. Dabei entstehen sogenannte Grenzformationen, die weniger Linien als Räume sind (Marung 2013:38). Zu einer greifbaren Grenze, die teilt und ein „Anderssein“, also einen Unterschied zwischen Menschen oder Räumen macht, wird ein Raum nur durch das Handeln von Akteuren und deren Interaktion miteinander. So können zum Beispiel Grenzbeamt:innen, die Kontrollen durchführen, Grenzarchitektur, oder auch Grenztechnologien den Raum zur Grenze machen. Sie teilen in „gleich“ und „anders“, in ein „wir“ und ein „das Andere“, ob durch ihr Handeln, ihre Unüberwindbarkeit, oder technologische Möglichkeiten. Dadurch werden sie für die Migrant:innen zu einer Grenze, die sie abgrenzt, von ihren Zielen abhält und überwunden werden muss. Auch die Definition von Grenzen als Produkt von grenz-sichernden und grenz-überwindenden Handlungen (Cvajner et al. 2018:74) kann dabei helfen, das Konzept der moving border besser zu verstehen. Denn die Akteure, die diese Handlungen ausführen, bewegen sich im Raum und können an verschiedenen Orten aufeinandertreffen. Die Grenze ist dadurch nicht an einen festen Punkt gebunden, sondern entsteht spontan dort, wo diese Handlungen aufeinandertreffen. Der Begriff „Ausgrenzen“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie die bewegliche Grenze funktionieren kann. Sobald Migrant:innen aufgrund dieses Status anders behandelt werden, entsteht für sie eine Grenze. Kann diese nicht überwunden werden, ist Ausgrenzung die Folge, ob aus einem Staat, dem Zugang zu öffentlichen Behörden und Mitteln, oder privaten Bereichen.

Die Vorverlagerung der EU-Außengrenzen auf den afrikanischen Kontinent

Die Externalisierung von Grenzen und das damit verbundene Auslagern von Grenzhandlungen steht in engem Zusammenhang mit der moving border. Bereits die Verlagerung der Grenze auf fremdes Staatsgebiet ist eine Bewegung, ebenso wie das Handeln der verschiedenen Akteure an dieser neuen, verlagerten Grenze.

Die Europäische Union hat ihre südliche Grenze in die Sahara verlagert (borderline europe 2019:2). Damit werden auch die mit Migration verbundenen Probleme und Aktivitäten, wie zum Beispiel Kontrollen, zumindest zu Teilen auf andere Staaten übertragen. Diese kooperieren oftmals mit der Europäischen Union, da sie auf deren Entwicklungshilfe angewiesen sind (Wolf & borderline europe 2016:5). Ibrahim Manzo Dialle bezeichnet den Niger sogar als Europas Grenzpatrouille (borderline europe 2018:11). Seit 2015 kooperiert das Land mit der europäischen Union um irreguläre Migration zu verhindern. Das ursprüngliche Ziel der EUCAP Sahel, einer zivilen Mission der europäischen Union, war der Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen. Seit 2015 gehört auch die Verhinderung von Migrationsbewegungen nach Norden zu ihren Aufgaben (borderline europe 2018:6). 

Doch wie hängt das mit dem Konzept der moving border zusammen? Neben der offensichtlichen Verlagerung der Grenze in das Staatsgebiet anderer Länder, bewegt sie sich durch die Handlungen ihre Akteure. Kontrollen stellen für Migrant:innen ein Grenze dar, da sie von ihnen aufgegriffen, festgenommen und deportiert werden können. Sie bewegen sich durchs Land, können überall auftauchen und beim Aufeinandertreffen mit Migrant:innen zu Grenzen für diese werden. Wie in der Einleitung beschrieben, bilden sich Grenzen immer dort, wo Migrant:innen und deren Regulierung aufeinandertreffen. Eine Kontrolle kann für sie das Ende der Migration bedeuten, wenn nicht sogar den Tod.

Um Migration zu verhindern, werden im Niger Handel und Transport auf das geringste beschränkt, damit jede Migrationsbewegung wahrgenommen werden kann (borderline europe 2018:9f.). Der Weg der Migrant:innen durch die Wüste ist gefährlich. Doch nicht nur die Gefahren der Wüste, kriminelle Organisationen und mögliche Fahrzeugpannen machen ihn so riskant. Treffen Migrant:innen auf eine Kontrolle, werden sie festgenommen und die Fahrer (in der Tat (fast) nur Männer) des Menschenhandels beschuldigt. Aus Angst vor der Bestrafung verlassen viele der Fahrer die Migrant:innen mitten in der Wüste, sobald sie eine Kontrolle befürchten (borderline europe 2018:10). In den meisten Fällen führt das zum Tod der Migrant:innnen, sodass die Sahara im Niger als „Friedhof unter offenem Himmel“ (borderline europe 2018:11) bezeichnet wird. Diese Todesfälle gelangen oft nicht an die Öffentlichkeit, da die Sahara weitläufig ist und Medien diesen Teil der Wüste nicht betreten dürfen (borderline europe 2018:11).

"Car with migrants stuck in the desert." Foto: Christian Jakob (borderline europe 2018:10).

Ein eindrückliches Beispiel für die Bewegung der Grenze in Form von Patrouillen sind die Kontrollen in Algerien. Ein häufig genutztes Mittel um die eigene Grenze vor Migration zu schützen, ist es, Migrant:innen bereits aus den Nachbarländern fernzuhalten, damit sie keine Möglichkeit haben, die Grenze zu erreichen (borderline europe 2018:7). Um also Migration nach Europa zu verhindern, werden Migrant:innen bereits aus Nachbarländern, wie zum Beispiel Algerien, ferngehalten, damit sie nicht mehr an die europäische Grenze gelangen können. Um das zu erreichen, werden in Algerien sogenannte Push-Backs praktiziert. Das sind Zurückweisungen ohne vorherige Prüfung der Schutzbedürftigkeit, was sie zu „systematisch völkerrechtswidrige Zurückweisungen“ (Wolf & borderline europe 2016:5) macht.

Im Juni 2018 wurden Tausende Menschen aus Subsahara-Afrika in Algerien festgenommen und mit Trucks in die Wüste gefahren, wo sie sich selbst überlassen wurden. Obwohl die Internationale Organisation für Migration (IOM) versuchte, so viele Migrant:innen wie möglich zu retten, haben Tausende ihr Leben in der Wüste verloren. (borderline europe 2018:7). Daran lassen sich verschiedene Aspekte der moving border betrachten. Zuerst gibt es die Patrouille, die sich während ihrer Kontrollfahrten im Raum bewegt. Trifft sie auf eine Gruppe von Migrant:innen, wird sie zur Grenze: Die Migrant:innen werden davon abgehalten, ihren Weg fortzuführen und stattdessen festgenommen und deportiert. Die Kontrolle teilt Menschen in Kategorien - Migrant:innen, die nicht erwünscht sind und Personen, die passieren dürfen - und zieht somit eine Grenze zwischen ihnen. Die Migrant:innen werden zum „Anderen“ erklärt und ihre Ausgrenzung damit gerechtfertigt.

"Some people say, Europe is profiting from the dangers in the desert, of the threat to be killed or tortured. All these threats are a good thing because it is protecting the European borders." -Andrea Stäritz in borderline europe 2018:13

Die Kooperation von Zielländern der Migration, in diesem Fall der Europäschen Union, mit den Herkunfts- und Transitländern, macht diese zu erweiterten Grenzräumen (Cuttitta 2015:245), innerhalb derer sich temporäre Grenzen materialisieren, sobald Migration und Regulierung aufeinandertreffen. Kontrollen allein bilden somit noch keine Grenzen, denn nur wenn sie tatsächlich auf Personen treffen und diese regulieren, entsteht eine Grenzsituation.

Das Mittelmeer als Brennpunkt der Migrationbewegung nach Europa?

Wenn in den europäischen Medien über Migration berichtet wird, ist der Fokus oftmals auf das Mittelmeer gerichtet. Doch warum ist das so? Einerseits führt die räumliche Nähe zum europäischen Festland dazu, dass die Vorkommnisse im Mittelmeer einfacher in die Medien gelangen. Andererseits ist das Interesse am Geschehen direkt „vor den Toren Europas“ höher, als an dem, was sich in der afrikanischen Wüste abspielt. Zudem ist das Meer für die Medien einfacher zugänglich als die Wüste, deren Betreten teilweise sogar verboten ist, wie im Norden des Niger (borderline europe 2018:11).

Im Mittelmeer treffen viele Akteure aufeinander: Die Migrant:innen, europäische Organisationen, Kräfte der Nachbarstaaten und Hilfsorganisationen. Sie bilden ein komplexes Konstrukt, welches die Grenze ständig beeinflusst und verschiebt. An der Nordafrikanischen Mittelmeerküste treten die Migrant:innen einen gefährlichen Weg an: Sie versuchen auf überfüllten Booten über das Mittelmeer die europäische Küste zu erreichen. Allein im April 2015 führten zwei Schiffsbrüche zum Tod von mehr als Tausend Migrant:innen (Heller & Pezzani 2016). Besonders im Gebiet zwischen der libyschen Küste und Sizilien verunglücken viele Migrant:innen (Rekacewicz & Rivière 2020), weil sie von Libyen aus Italien erreichen wollen, insbesondere die nicht allzu weit entfernte italienische Insel Lampedusa.

Migrant deaths (Rekacewicz & Rivière 2020)

Eine von Forensic Oceanography „Mare Clausum“ getaufte Operation der Europäischen Union, die darauf abzielt, Migration in Richtung Europa einzudämmen, vereint viele Aspekte der moving border. Sie baut auf die enge Kooperation Europas mit Libyen und der libyschen Küstenwache auf. Diese wurde von der Europäischen Union damit beauftragt, die Boote der Migrant:innen aufzuhalten und Pull-Backs durchzuführen (Heller & Pezzani 2018:3). Die Schiffe der libyschen Küstenwache stellen eine Grenze dar, die für Migrant:innen nahezu unüberwindbar ist und durch ihre ständige Bewegung nur schwer lokalisierbar ist. Überwachungstechnologien, wie zum Beispiel Drohnen, führen zu einer Entterritorialisierung der Grenze im Mittelmeer (Hess & Karakayali 2017:28) und machen sie gleichzeitig allgegenwärtig. Trotz dieser Überwachung, abgegebenen Notsignalen, sowie der Interaktion mit einem Militärhelikopter und einem Militärschiff, sank im März 2011 ein Gummiboot, nachdem es 14 Tage im Mittelmeer trieb (Heller & Pezzani 2012). Dieser Fall ist ein Bespiel für das nekropolitischen (Nicht-)Handeln von Grenzakteuren, in diesem Fall des Militärs. Als Nekropolitik bezeichnet wird das Ausnutzen von Macht, um darüber zu bestimmen, wie Personen leben oder sterben (Davies et al. 2017:1267f.). In diesem Fall wurde durch die Entscheidung, nicht einzugreifen, bestimmt, dass man die Migrant:innen sich selbst überlässt, obwohl sie dies mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben konnten.

Währenddessen wird die Seenotrettung kriminalisiert, um zu verhindern, dass Migrant:innen von Hilfsorganisationen gerettet und in europäische Häfen gebracht werden. Ein bekannt gewordener Fall ist der von Carola Rackete, die als Kapitänin eines Rettungsschiffes tätig war. Eine Erklärung zum Fall findet sich unter folgendem Link:

Die Kriminalisierung der Seenotrettung ist eine Immobiliserung der humanitären Grenze und damit verbunden eine Einschränkung migrantischer Hilfsmittel zur Überwindung der Grenze. Und wenn doch Migrant:innen aus dem Mittelmeer gerettet werden, so können die europäischen Zielhäfen wie im Fall Rackete zur Grenze werden, indem den Rettungsschiffen die Einfahrt in den Hafen verweigert wird.

Europa hat mit der Grenzexternalisierung die Menschenrechtsverletzungen auf Akteure anderer Staaten übertragen (Heller & Pezzani 2018:3), oder agiert durch gezieltes Nicht-Handeln (Heller & Pezzani 2012). So wird versucht zu umgehen, die Menschenrechte der Migrant:innen durch eigenes, aktives Handeln zu verletzten. Das macht die Situation jedoch nicht besser, da nun andere, von der Europäischen Union beauftrage, Akteure menschenrechtswidrig handeln und dies sogar von ihr unterstützt wird.

Zusätzlicher Input zur Kriminalisierung von Migration und Migrationshilfe:

Migration Criminalization in the eyes of non-white migration activists: Hosted by Carola Rackete (Sea-Watch e.V. 2020).

Migrant:innen als elementare Akteure der moving border

Bisher bezieht sich dieser Teil der StoryMap vor allem auf den Einfluss staatlicher Akteure, die Migration verhindern, sowie Einzelpersonen und Hilfsorganisationen, die Migration unterstützen. Durch politische Macht oder finanzielle Mittel haben sie die Möglichkeit Migration und die Bewegung der Grenze zu beeinflussen. Doch welchen Beitrag leisten die Migrant:innen selbst zur moving border?

Viele Definitionen von Grenzen beziehen Migrant:innen als wichtigen Faktor für deren Entstehung mit ein. Betrachtet man sie Produkt von grenz-sichernden und grenz-überwindenden Handlungen (Cvajner et al. 2018:74), spielen Migrant:innen eine entscheidende Rolle. Sie sind die Akteure, die versuchen, Grenzen zu überwinden und damit die Gegenpartei der grenzsichernden Akteure. Ohne sie, die Grenzen angreifen, könnte das Phänomen der moving border nicht existieren. Denn wozu werden Grenzkontrollen, Patrouillen, Zäune oder Überwachungstechnologien benötigt, wenn es niemanden gibt, der versucht die Grenze zu überwinden?

Auch Hess & Karakayali schreiben Migrant:innen eine bedeutende Rolle zu. In „Fluchtlinien der Migration“ (2017:28) definieren sie Grenzen als Orte des ständigen Konflikts zwischen Migrant:innen und deren Regulierung. Somit sind die Migrant:innen selbst von essentieller Wichtigkeit für die Entstehung von Grenzen, sowie deren Bewegung. Denn ohne die Migrant:innen würden sich die Grenze und ihre Akteure nicht bewegen - es wäre schlichtweg nicht nötig, da die zweite Konfliktpartei nicht mehr existieren würde. Bewegen sie sich jedoch im Raum, kann jedes Aufeinandertreffen mit anderen Akteuren zur Entstehung einer Grenze führen.

"Borders are said to be where the migrant is, by „following the migrant“ […]." -Dijstelbloem et al. 2021:4

Das Konzept der Autonomie der Migration sieht in Migrant:innen die Initiator:innen von Migration und möchte ihre Handlungsmacht unterstreichen (Hess & Karakayali 2017:25ff.). Während in vielen Diskursen der Fokus auf den Zielländern der Migration und deren Akteuren liegt und Migrant:innen als „ohnmächtige“ Opfer der Umstände sieht, möchte dieses Konzept einen Perspektivwechsel machen und Migrant:innen, sowie deren Handlungsmacht sichtbar machen (Hess & Karakayali 2017:25ff.). Das Phänomen der moving border zeigt, dass Migrant:innen tatsächlich die Macht besitzen, Grenzräume zu formen. Denn wie bereits dargestellt, sind sie ein essentieller Teil von Grenzregimen, ohne den Grenzen völlig anders aussehen würden. Durch ihre Entscheidung, zu migrieren - ob freiwillig oder gezwungenermaßen - setzen sie Prozesse in Gang, die sich auf die Grenze und deren Eigenschaften auswirken.

Foto: Giacomo Zandunini (borderline europe 2019:0)

Zusammenfassung

Grenzen sind das Produkt der Handlungen verschieden Akteure. Sie entstehen aus dem Zusammentreffen von grenz-sichernden und grenz-überwindenden Handlungen (Cvajner et al. 2018:74) und sind Orte des ständigen Konflikts (Hess & Karakayali 2017:28). Da die Akteure dynamisch sind und sich ständig im Raum bewegen, bewegt sich auch die Grenze, die durch das Handeln eben dieser Akteure beeinflusst wird, mit ihnen. Grenzen werden externalisiert und die Grenzräume ausgeweitet, moderne Technologien führen durch die Möglichkeit einer allgegenwärtigen Überwachung zu einer Entterritorialisierung (Hess & Karakayali 2017:28).

Dennoch sind Grenzen niemals völlig gleichbleibend. Sie werden überwunden und stabilisieren sich wieder, entstehen spontan beim Aufeinandertreffen verschiedener Akteure und verschwinden, sobald deren Interaktion endet. Die moving border bewegt sich im Raum und kann unvorhersehbar sein.

So ist auch die südliche EU-Außengrenze als Produkt dynamischer Aktivitäten im Raum beweglich. Wichtige Akteure sind, neben den Migrant:innen selbst, staatliche/europäische Akteure, wie FRONTEX, die Polizei, das Militär oder die Küstenwachen der Mittelmeerstaaten, sowie NGO’s (z.B. Sea-Watch). Auch nicht-europäische Staaten arbeiten in Folge der Grenzexternalisierung mit der Europäischen Union zusammen und werden somit zu Akteuren, die die europäische Grenze vor Migration schützen sollen.

Die unten zu sehende Kartenskizze "Migration" (Rekacewicz 2014) veranschaulicht viele Aspekte, die in diesem Teil der StoryMap zur moving border benannt wurden. Neben den Migrationsströmen sind die vorverlagerte Außengrenze, die sogenannte "pre-border" in der Sahara, die Hotspots an den Küsten und die Überwachungszonen von FRONTEX zu erkennen. Die verschiedenen Grenzen, denen Migrant:innen auf ihrem Weg in die Europäische Union begegnen, können so nochmals auf einen Blick betrachtet werden.

Migration (Rekacewicz 2014)


Innere Grenzen für Migranten:innen

Grenzen stehen, neben dem Verständnis von Staatsgrenzen, im rechtlichen Sinn für Vorschriften und Regeln und für Unterscheidungen im individuellen, kulturellen oder politischen Ansatz (Kleinschmidt 2014). Gesetze und Regulierungen haben einen großen Einfluss auf die Situation von Migranten:innen und bilden Grenzen innerhalb eines Landes (Gargiulo 2021:14). So ist festzustellen, dass die Grenze von den offensichtlicheren Außengrenzen mit Zäunen und Kontrollen bis ins Innere eines Landes mitgewandert sind. Die Grenzen innerhalb des Landes sind weniger sichtbar (Gargiulo 2021:14) und um diese Grenzen, die sich mit Migranten:innen in ein anderes Land bewegt haben, geht es in diesem Abschnitt der Storymap. Auch bürokratische und administrative Regelungen können Grenzen herstellen (Gargiulo 2021:14f.). Oftmals führen diese zu einer Exklusion von der Gesellschaft (Gargiulo 2021:14) und haben somit einen enormen Einfluss auf das alltägliche Leben von Migranten:innen. Zusätzlich zu den vom Staat entwickelten Barrieren erfahren Migranten:innen weitere Schwierigkeiten aufgrund von gesellschaftlichen Normen und sozialen Gegebenheiten. Um die gesellschaftlichen Barrieren und die Grenzen innerhalb eines Landes besser zu verstehen, wurden zwei Interviews durchgeführt. Beide Interviewpartner sind junge Erwachsene und Studenten. Sie haben Fluchterfahrung und leben seit fast sechs Jahren in Deutschland. Die Namen wurden aus datenschutzrechtlicher Grundlage verändert.

Grenzen in Aufnahmeeinrichtungen

Im Falle der Grenzöffnung der Bundesrepublik Deutschland am 04. September 2015 war es Menschen auf der Flucht möglich ohne Kontrollen aus Ungarn nach Deutschland einzureisen (Bruder 2017:15f.). Nach der Grenzüberschreitung nach Deutschland wurden Asylsuchende mit weiteren Barrieren konfrontiert. Zunächst war die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen vorgesehen (Pichl 2017:163). In seinem Artikel „Soziale Arbeit im Ausnahmezustand“ erklärt Pieper (2011:125), dass diese Einrichtungen in Deutschland halboffen sind. Halboffen bedeutet, dass die Mobilität eingeschränkt wird, da eine Residenzpflicht innerhalb der Landkreise herrscht (Pieper 2011:125) und gleichzeitig eine 6-monatige Pflicht besteht, in der Unterkunft zu wohnen (Pichl 2017:164). Bei Verstößen gegen die Residenzpflicht kann es zu einer Einstellung des Asylverfahrens kommen (Muy 2016:65). Demnach wird mit der Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen und den dort herrschenden Regeln die Entscheidungsfreiheit der Bewohner:innen eingegrenzt.

Des Weiteren sind die Aufnahmeeinrichtungen dezentral lokalisiert, so dass das „Ankommen“ im Land erschwert wird (Pieper 2011:125). Die Schlafmöglichkeiten in Mehrbettzimmern gewährleisten keine Privatsphäre (Pieper 2011:127). Auch die Verweigerung von Arbeitserlaubnissen während der Wartezeit auf die Genehmigung des Asylantrages verwehren Betroffenen die Teilnahme am sozialen Leben und die Integration in ein Land (Cuttitta 2015:250). Diese Form der Unterbringung „zielt auf die Festsetzung, Kontrolle und Verwaltung von Flüchtlingen [ab] und deren […] Fernhalten und Ausschluss aus der Gesellschaft“ (Pieper 2011:125). Der Zugang zur Gesellschaft wird somit erschwert und es erfolgt eine „Grenzziehung“ zwischen der Bevölkerung und Migranten:innen wird gezogen.

So berichtet Amir über die Zeit in einer Aufnahmeeinrichtung:

„Die erste Barriere [...] und die behördliche Barriere. Z.B. das Warten auf einen Termin beim BAMF war die schlimmste Barriere, weil das das zukünftige Leben in Deutschland betrifft. Es fehlt die Perspektive [...] man kann nicht planen. [...] Freunde von mir haben bis zu 2 Jahre auf einen Termin gewartet.“ (Interview Amir)

„Illegalisierung“ und die Bedeutung für das alltägliche Leben

Mit dem Dubliner Übereinkommen von 1997 haben die Schengen-Staaten festgelegt, dass ein Asylantrag dort gestellt werden muss, wo zuerst eingereist wurde (Angermann 2020). Mit dieser Regelung kommt es zur „Illegalisierung“ von Geflüchteten, die in ein weiteres Land migrieren. Laut Scheel (2015:3) ist „Illegale Migration“ nicht natürlich, sondern ein Produkt aus einschränkenden Gesetzen und dem „Zusammenprall von migrantischen Praktiken der Aneignung“ (Scheel 2015:3). Im Falle des Dubliner Abkommens führen die Einschränkung der Antragsstellung auf Asyl und die Aneignung von Mobilität der Migranten:innen durch die weitere Migration zu diesem „Zusammenprall“ (Scheel 2015:3) und es kommt zur „Illegalisierung“. Ohne Aufenthaltsgenehmigung ein Leben zu führen ist mit großen Hindernissen - Grenzen - im Alltag verbunden und führt zur Exklusion in der Gesellschaft (Lebuhn 2014:345ff.).

Wie an den Außengrenzen spielen neben Gesetzen auch Kontrollen eine zentrale Rolle. Lebuhn (2014:345) betont, dass die Stadt zu einem „Grenzraum“ wird, denn Passkontrollen gehören zum Alltag in Städten. Kontrollen können an unzähligen öffentlichen Orten stattfinden wie in Zügen, auf Bahnhöfen, an Ämtern und Behörden, sowie am Arbeitsplatz (Lebuhn 2014:345). In konservativ orientierten Bundesstaaten der USA müssen Hausbesitzer:innen ihre Mieter:innen nach Aufenthaltsdokumente fragen, ebenso ist die Überprüfung der Aufenthaltsdokumente bei Verkehrskontrollen in diesen Staaten üblich (Lebuhn 2014:348). Es kann jederzeit zu Situationen kommen, die eine Abschiebung zur Folge haben; somit führen vermeintlich ungefährliche Situationen zu Ängsten (Wilcke 2018:9). Ohne Kontrollen gäbe es keine „Illegalen“ und daher kommt es nicht „nur“ beim Überschreiten der Außengrenzen zur „Illegalisierung“, sondern auch innerhalb eines Landes (Lebuhn 2014:345).

Die Exklusion von „Illegalen“ führt so weit, dass Rechte, wie der Besuch von Schulen, der Zugang zu Wohnraum, Krankenversicherung und Arbeit eingeschränkt sind (Wilcke 2018:9f.). Diese Einschränkungen im öffentlichen Leben lassen sich mit den Kontrollen von Pässen und Meldebescheinigungen bei Arbeitsämtern, an Universitäten, an Schulen, bei Banken, in Bibliotheken und Krankenversicherungen erklären (Lebuhn 2014:346f.). Demzufolge dürfen „Illegalisierte“ viele Rechte nicht wahrnehmen und Grenzen im Leben von „Illegalisierten“ gehören zum Alltag.

Menschen werden durch Kontrollen an Außengrenzen und im Inneren "illegalisiert", es gibt keine Illegalität, sondern diese wird erzeugt, Foto: Rodemann, Evi

Der Begriff: Grenze - eine neue Perspektive

In diesem Zusammenhang lässt sich der Begriff Grenze noch einmal neu einordnen, denn Lebuhn (2014:346) fasst zusammen, dass eine Grenze an Orten angetroffen wird, sobald ein Zusammentreffen von Migrant:in und dem „lokalen Staat“ aufkommt. Weitere Definitionen von Grenzen im Zusammenhang mit Migration und der Verschiebung sowie Bewegung der Grenze sind aufgekommen. So formuliert Spathopoulu (2016) die Beweglichkeit der Grenze folgendermaßen: “[…] the border itself, follows the people which have passed through it, into the interior of the national state and beyond”. Auch Papataxiarchis (2016:7) Aussage „everyone and everything goes where the refugee goes“ zielt darauf ab, dass alles den Menschen folgt, die auf der Flucht sind. Beide Aussagen unterstreichen die Beweglichkeit, die Verlagerung und Verschiebung von Grenzen. Die Kontrollen der Außengrenzen haben sich mit Migranten:innen bis ins Innere des Landes bewegt. Die Akteure haben sich ggf. geändert von Grenzbeamten zu Polizisten oder Beamte der Stadt, also Akteure des „lokalen Staat“-es (Lebuhn 2014:346).

Der Arbeitsmarkt und seine Grenzen

Um zu überleben müssen „Illegalisierte“ arbeiten gehen; ohne Arbeitserlaubnis bringt dies weitere Grenzen mit sich und es folgen schwierige Arbeitsbedingungen (Lebuhn 2014:230). Ohne einen Aufenthaltstitel gibt es keine andere Möglichkeit, da es keine sozialen Hilfeleistungen, wie Arbeitslosengeld oder Grundsicherung gibt (Wilcke 2018:148f.). Die Bedingungen ohne „Papiere“ bringen einige Schwierigkeiten mit sich. So erfolgt die Arbeit ohne Vertrag, so dass Ausbeutung, mangelnder oder kein Arbeitsschutz, geringe oder ggf. keine Bezahlung und fristlose Kündigungen zum Alltag gehören (Wilcke 2018:9f.). In bestimmten Arbeitsbereichen können leichter Jobs gefunden werden, so z.B. in der Gastronomie, in Hotels, in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Pflege und Hausarbeit und der Sexarbeit (Wilcke 2018:149). Grundsätzlich ist die Nichteinhaltung von Urlaubsanspruch, die Bezahlung bei Krankheit und die Verwehr einer Unfallversicherung auf der Arbeit nicht erlaubt (Mitrovic 2009:175), doch gängig bei der Einstellung von „Illegalisierten“ (Wilcke 2018:168). Diese Regelung vom Staat beinhaltet auch, dass bei Verstößen gegen die Rechte aller Arbeitnehmer die Arbeitgeber mit erheblichen Nachzahlungen rechnen müssen und hat zum Ziel die Einstellung von Menschen ohne Arbeitserlaubnis zu unterbinden (Wilcke 2018:168). Oft werden „Illegalisierte“ auf „flexible, gefügige“ und billige Arbeitskräfte reduziert (Scheel 2015:4).

Auch Migranten:innen mit gültigen Papieren spüren Schwierigkeiten, also Grenzen beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Sprachbarriere war ein Hindernis, aber auch Hilfestellungen waren nicht ausreichend, berichtet Tarek. Nicht einmal ein Praktikumsplatz in dem Bereich, den man in der Heimat erlernt hatte, war aufzufinden. Die Regelung, dass aus Schutz vor Ausnutzung ein Praktikum nur für einen Monat möglich ist, empfindet Tarek als problematisch:

 „Warum gibt es keine Chance für die, die lernen wollen. Und vielleicht gefällt die Stelle und der Arbeitgeber ist mit dem Praktikant zufrieden und es könnte eine Anstellung geben. Ich glaube viele Firmen könnten davon profitieren.“ (Interview Tarek)

Der Wohnungsmarkt und die Schwierigkeiten

„You need your passport. You need a salary certificate. You need proof that you are not in debt. I do not have a German passport. I do not have a bank account. I don’t get any proof or salary certificates. How should I rent a flat? I’m black and my German is not the best, as you know. So I can’t rent a flat. I live at friends’ places.” (Interview mit Enam, Wilcke 2018:173)

Das Zitat von Enam aus dem Buch „Illegal und Unsichtbar?“ zeigt deutlich die Schwierigkeiten und Barrieren auf dem Wohnungsmarkt. Gesetzlich ist es vorgesehen, dass bei der Anmietung einer Wohnung eine Meldung beim Einwohnermeldeamt erfolgen muss. Bei Auffälligkeiten der Papiere steht das Einwohnermeldeamt in der Pflicht diese der Ausländerbehörde zu melden (Wilcke 2018:174).

Des Weiteren ist der Nachweis eines regelmäßigen Einkommens ein Hindernis. Demnach ist das Anmieten einer eigenen Wohnung äußerst schwierig (Wilcke 2018:174). Auch Tarek beschreibt Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche und er berichtet:

„Ohne die Hilfe meines Cousins konnte ich keine Wohnung finden. Er hat eine Garantie für mich gegeben und hat immer gesagt, dass er Oberarzt ist und so habe ich eine Wohnung gefunden.“ (Interview Tarek)

Gesundheitliche Versorgung

„What should I do? I don’t have the money for a doctor. That’s why I have to help myself. I find ways to organize myself medicine. It’s not that complicated. Going to a doctor is the last choice for me. I only go, if there is no other way left.” Interview mit Andrew (Wilcke 2018:209)

Medizinische Versorgung steht gesetzlich auch Migranten:innen ohne legalen Status zur Verfügung, doch in der Realität ist diese problematisch (Misbach 2008:40). Bei Inanspruchnahme des Rechtes auf medizinische Versorgung müssten sich „Illegalisierte“ beim Sozialamt melden, um die reduzierte Leistung zu erhalten; das Sozialamt ist wiederum verpflichtet Einwohner ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung an die Ausländerbehörde zu melden, so dass mit einer Abschiebung zu rechnen wäre (Misbach 2008:40). So ist auch bei der Versorgung im gesundheitlichen Bereich eine große Barriere zu finden. Häufig kommt die Behandlung zu spät, da aus Angst länger gewartet wird zum Arzt zu gehen und das medizinische Problem verstärkt sich oft (Misbach 2008:40).

Soziale Grenzen: Leben in einer neuen Gesellschaft

„Alles waren Barrieren, weil alles neu war.“ (Interview Tarek)

Der erste Eindruck von jemandem ist oft entscheidend und prägen den Umgang und die Einstellung. So waren Amir‘s erste Erfahrungen mit Menschen in Deutschland nicht positiv. In der Aufnahmeeinrichtung wurde die Unwissenheit der Asylbewerber über ihre Rechte ausgenutzt und falsche Informationen von den Mitarbeitern:innen vermittelt.

„Das war mein erstes Bild von Menschen in Deutschland – ein schlechtes Bild. Die Verarbeitung dieses Bildes hat lange gedauert.“ (Interview Amir)

Es ist deutlich zu sehen, dass auch der Umgang mit Menschen in Deutschland eine Grenze aufzeigt. Besonders wird bei den Interviews deutlich, dass die Sprache eine große Barriere darstellte. Dieses Hindernis war vor allem bei der Arbeitssuche oder weiterführender Bildung zu spüren.

Die migrantischen Kämpfe nach Scheel (2015:4) finden in alltäglichen Situationen statt. Der Kampf bezeichnet eine „Konfliktbeziehung zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle“ (Scheel 2015:2). Dabei spielt die Aneignung von Regeln und Normen eine entscheidende Rolle, um Kontrollen zu umgehen (Scheel 2015:11f.). Diese Kämpfe finden laut Scheel (2015:4) z.B. bei den Gesprächen mit den Beamten der Ausländerbehörde, bei Besprechungen mit Arbeitgebern und auch im privaten Bereich statt. Diese Erfahrungen der Grenze in alltäglichen Situationen haben auch die Interviewpartner in Deutschland erlebt. Besonders auffällig waren die meist negativen Erfahrungen mit der Ausländerbehörde und dem Jobcenter. Der Ton war rau und die Hilfestellung nicht ausreichend.

„Eine Mitarbeiterin [...] hatte mir gesagt, als ich den Aufenthaltstitel verlängern wollte, dass ich keine Verlängerung kriegen werde und keine Arbeit finden werde. Aber 2 Wochen später hatte ich alles.“ (Interview Amir)

Mit diesem Erfahrungsbericht wird deutlich, dass es bei Behördengängen oft zu abwertenden, falschen und demotivierenden Aussagen kommt. Tarek berichtet von einer ähnlichen Erfahrung. Als er die Sprachschule wechseln wollte, um weniger Pendelzeit zu haben, erhielt er eine laute, unhöfliche Antwort:

„Dann gehst du auf die Straße.“ (Interview Tarek)

Die Erfahrungen führen zu einer Art Resignation und „schlechten Gefühlen“ (Interview Tarek).

„Leider ist das so. Man kann nichts machen. Man kann nichts beweisen. Du fühlst dich paralysiert.“ (Interview Tarek)

Als weiteren „migrantischen Kampf“ nach Scheel kann die Schwierigkeit im Umgang mit Menschen angesehen werden, die Amir beschreibt: „Das Mitleidgefühl von Menschen, die ich getroffen habe, war ein bisschen verständlich, aber unerträglich.“ Amir möchte diese Problematik kommunizieren und geht dabei öfter in die Konfrontation um gegen Rassismus und Diskriminierung zu kämpfen. Es wird deutlich wie stark die Viktimisierung ist, also die Reduzierung eines Menschen auf die „Opferrolle“ und die Ausblendung der „capacity to act and resist“ (Mezzadra 2020:10). Dadurch fühlen sich Migranten:innen diskriminiert, was schwer zu ertragen ist. Im Zusammenhang mit der Viktimisierung sei auch zu erwähnen, dass Amir die Erfahrung gesammelt hat, dass ihm vieles nicht zugetraut wird:

„Ich stehe immer unter Verdacht, dass ich etwas nicht kann, beispielsweise dass ich das deutsche System nicht verstehen werde oder eine Hausarbeit nicht rechtzeitig bei den Dozenten abgeben werde. Das wird immer indirekt kommuniziert, also mir wird das Gefühl vermittelt, ich kann das nicht.“ (Interview Amir)

Als eine sehr belastende Grenze erfährt Amir nicht nur die Viktimisierung, sondern auch die Kategorisierung in Deutschland. Beispielsweise berichtet er, dass bei ihm oft von vornherein davon ausgegangen wird, dass er keinen Alkohol trinkt. Einmal wurde er gefragt, ob er mit Frauen gut klarkommen würde. Im Gespräch wird deutlich, dass die voreingenommenen Annahmen sehr diskriminierend sind und das Gefühl entsteht, nicht als eigenständige Person wahrgenommen zu werden, sondern die Meinung schon voreingestellt ist.

Tarek erklärt im Interview warum die Kategorisierung stattfindet:

„Die Menschen nehmen alles aus den Medien und der Zeitung und sie glauben alles. Und sie haben Sachen jeden Tag über Flüchtlinge, Araber und Muslime gehört. Sie bilden sich etwas ein und wollen ihre Meinung nicht ändern. Natürlich muss man in so einer Gesellschaft vorsichtig sein.“ (Interview Tarek)

Im Zusammenhang mit der Kategorisierung steht auch die Kriminalisierung, die als Strategie der Berichterstattung genutzt wird Scheel (2015:4). Laut Tarek ist „das Bild [von einem Geflüchteten] schon im Kopf. [...] kann man nicht einfach ändern.“ So erfuhr er eine Form der Kriminalisierung:

„Einmal haben sie gefragt, ob ich eine Bombe in meinem Zimmer [..] baue.“ (Interview Tarek)

Es entsteht eine große Sehnsucht, ein Wunsch:

„Ich wünsche mir, dass ich nicht nach den äußeren Merkmalen beurteilt werde und in die Schublade gesteckt werde. Ich möchte in der Gesellschaft angenommen werden, wie ich bin und wie ich mir vorstelle und nicht wie es die Gesellschaft möchte. Ich möchte nicht diskriminiert oder rassistisch behandelt werden in jeglicher Art, egal wo und wie. Das wünsche ich mir auch für die ganze Gesellschaft.“ (Interview Amir)

 Die Interviews verdeutlichen die gesellschaftlichen Grenzen und zeigen die täglichen diskriminierenden und rassistischen Aussagen, die Migranten:innen in Deutschland erfahren. Neben den Vorurteilen, die als Grenze auftreten und von welchen die Interviewpartner berichteten, sind laut Cuttitta „status borders“ (2015:248) ein Teil der inneren Grenzen. Der Status einer Person, also beispielsweise die Angehörigkeit zu einem Staat, der Beruf und die Religion können als Grenze auftreten. Die Erklärung der Mobilität der Grenzen liegt darin, dass die persönlichen Gegebenheiten in einer Person sind und somit mit ihr getragen werden. In Bezug auf die Außengrenze können die „status borders“ dazu führen, dass es unmöglich wird diese zu überqueren und sie können sich so in eine Außengrenze verwandeln (Cuttitta 2015:254). Die Interviews haben die inneren Grenzen aufgezeigt, die ebenso Bewegung aufweisen, denn wenn die Status-Grenzen in der Person ist, so ist die Grenze auch dort, wo der/die Migrant:in sich befindet und die Aussage von Dijstelbloem, H & L. van der Veer (2019) dass die Grenze den Migranten folgt ist schlüssig.


Résumé

Abschließend zeigt sich, dass Grenzen immer einer unterschiedlichen Wahrnehmung unterliegen, welche ein Produkt der persönlichen Interaktion derer mit verschiedenen Akteuren darstellt. Somit können Grenzsituationen je nach Perspektive der Akteure in unterschiedlicher Weise in Erscheinung treten. Gleichzeitig ist zu beachten, dass die politische Grenzziehung, die den alltäglichen Gebrauch des Begriffes Grenze dominiert, nur eine einzige Dimension von Grenzen ausmacht. Die moving borders zeichnen sich besonders durch eine Verschiebung ihrer innerhalb und außerhalb dieser rein politischen Grenzziehung aus. Im selben Maße, wie sich Grenzen als direkte Reaktionen auf ihre Akteure ergeben, besitzen sie eine permanente Dynamik sowie eine Unvorhersehbarkeit. Sie unterstehen weder einer zeitlichen noch einer räumlichen Bindung, wie die soziale Grenzziehung in ihrer Unabhängigkeit von der politischen aufzeigt.

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Die europäischen Außengrenzen im Wandel

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