Verbriefte Märkte - Seidene Beziehungen

Basel und das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert

Falkeisen: Von Basel nach Bursa

 Albert Höflinger, Porträt des Kupferstechers Johann Jakob Falkeisen (1882) 

Johann Jakob Falkeisen (1804-1883), Maler und Kupferstecher aus Basel, reiste 1843 nach Bursa, um im Zentrum für die osmanische Seidenproduktion seinen Bruder, Emanuel Falkeisen (1807-1869), bei dessen Geschäften zu unterstützen. Emanuel war bereits Anfang der 1830er Jahre nach Bursa ausgewandert und hatte in der ehemaligen osmanischen Hauptstadt ein Handelshaus für Kommissionsgeschäfte gegründet. Dabei agierte er als Vertreter der Zürcher Seidenfirma Heinrich de Daniel von Muralt & Söhne, während es ihm innert weniger Jahre gelang, ein grenzüberschreitendes Netzwerk an Händlern, Fabrikanten, Bankiers, Beamten und Diplomaten aufzubauen und sich in die osmanische Geschäftswelt zu integrieren. Nach der Ankunft seines Bruders Johann Jakob betrieb Emanuel gemeinsam mit seinem armenischen Geschäftspartner Ohannes Tasciyan die erste dampfbetriebene Seidenspinnerei in Bursa. Ferner besass er eine Weinhandlung sowie ein Hamam und wurde 1843 russischer und später österreich-ungarischer Konsul. Johann Jakob, der bis 1855 in Bursa lebte, illustrierte und dokumentierte in Aquarellbildern die vielseitigen Geschäftstätigkeiten seines Bruders und dessen kaufmännisch-diplomatisches Netzwerk.

"Ankunft und Einzug in Brussa im November 1843".

Ankunft einer Reisegruppe in Bursa, die Emanuel Falkeisen als neu ernannten russischen Konsul begleitet. Die Gruppe setzt sich aus Verwandten, Diplomaten und Geschäftsleuten zusammen.

Vorne reiten gemeinsam mit Emanuel (1) und Johann Jakob Falkeisen (2) Janko (3) und Peppo Caccace (4). Ersterer wird als Griechischer Konsul in Trabzon, letzterer wird als Kapitän eines Dampfschiffes (Vapor Capitän) ausgewiesen. Sie sind Verwandte von Emanuel Falkeisens Frau, Maria Susanna Caccace (5). Die Familie Caccace stammte ursprünglich aus Neapel.

Des Weiteren befinden sich in der Reisegruppe die beiden Prokuristen der Firma Falkeisen & Co., ein Herr Schaub (1) sowie Heinrich Schwaab (2). Letzterer fungierte von 1848 bis 1851 als österreichischer Konsul, besass zudem eine eigene Seidenhaspelei in der nahegelegenen Stadt Yenisehir und berichtete im Jahr 1851 der Basler Seidenbandfirma Forcart-Weiss & Burckhardt-Wildt über Entwicklungen im Seidenmarkt in Bursa. Sie werden begleitet vom als «Thirke» (3) bezeichneten Arzt des Paschas in Bursa und dem Direktor des Falkeisenschen Weinhandels Puhl (4).

Begleitet wird Emanuel Falkeisen zudem vom Bankier François Vuccino (1) aus Istanbul, der von einer alteingesessenen inselkatholischen Levantinerfamilie abstammte. Die Vuccinos waren im 18. Jahrhundert aus der Ägäis nach Istanbul und Izmir eingewandert und zählten im 19. Jahrhundert zur osmanischen Elite. Komplettiert wird die Reisegruppe durch den armenischen «Courtier» (Händler) Boos (2), dem Postmeister von Bursa Husseyn Aga (3), dem Kawassen, das heisst Diplomatenwächter, Aly (4), der für das russische Konsulat arbeitete, und Steppan (5), einen «Bedienter».

Die Geschäftsbeziehungen Falkeisens erstreckten sich über die Grenzen des Osmanischen Reiches hinaus. Neben der Vertretung der Zürcher Seidenfirma de Muralt stand er in guten Geschäftskontakten mit einer Textilfirma in Lyon und pflegte auch nach der Auswanderung gute Beziehungen zur Basler Geschäftswelt. Hatte die Basler Privatbank Ehinger & Cie. Falkeisens Firmengründung in Bursa finanziell unterstützt, so fungierte sie zugleich als Mittler für die Geschäftskorrespondenz und Geschäftsbeziehungen mit Basler Band- und Schappefabrikanten. Geschäftsbeziehungen hatte Falkeisen aber auch zu Textilunternehmen in anderen Landesteilen der Schweiz, etwa zur Glarner Textilfärberei Blumer & Jenny aus Schwanden, die sich ab 1835 mit Beteiligungen an einheimischen Firmen und mit Kommanditeinlagen im Osmanischen Reich etablierte. In den Jahren 1842 bis 1853 steigerte das Glarner Unternehmen den Umsatz in der Levante um ein Mehrfaches, wobei Falkeisen zu den wichtigsten Kunden zählte. Falkeisens Ruf als geschäftstüchtiger Unternehmer reichte indes über die Welt der Kaufleute und Bankiers hinaus. In lokalen Zeitungen sowie in europäischen Reise- und Botschafterberichten über das Osmanische Reich fanden seine vielseitigen Geschäftstätigkeiten wiederholt Erwähnung, manch ein Reisender suchte ihn gar persönlich auf.

Briefe aus Bursa

In den 1830er- und 1840er- Jahren korrespondierte Emanuel Falkeisen mit den Basler Band- und Schappefabrikanten Forcart-Weiss & Söhne, Burckhardt-Wildt & Sohn und J. S. Alioth & Cie. Falkeisen betätigte sich als Kommissionshändler sowohl im Seidengeschäft als auch im allgemeinem Warenhandel.

Nous nous occuperons aussi, Messieurs, et toujours en commission, des divers genres d’affaires que comporte la Place, et plus spécialement d’achats et ventes de marchandises.

Zirkular von Falkeisein & Co., 1836

Seine Briefe enthielten wertvolle Informationen über den Seidenmarkt in Bursa. Nebst der Seidenraupenzucht, der jährlichen Rohseidenproduktion, der Organisation von Kredit- und Finanzgeschäften kam dabei auch der ökonomische Wandel zur Sprache, den die lokale Rohseidenproduktion im Zuge des zunehmenden europäischen Einflusses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte.

La ville de Brousse ... s'occupe, ainsi que plus de vingt villages de ses environs, principalement de l'éducation des vers à soie; la récolte peut se monter de 4 à 6000 balles par an...

Zirkular von Falkeisein & Co., 1836

Bursa war seit dem 15. Jahrhundert ein wichtiger Handels- und Produktionsplatz für Seide im Osmanischen Reich. Seidenstoffe, die hier gewoben wurden, waren sowohl in italienischen Stadtrepubliken als auch im Nahen und Fernen Osten gefragt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich Bursas Seidengewerbe allerdings auf drastische Weise, als im Zuge zwischenstaatlicher Handelsverträge europäischen Handelshäusern und Industriellen weitreichende Handelserleichterungen zugesprochen wurden und der osmanische Markt sich zunehmend dem Freihandel öffnete.

Wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl Rohseide als auch Seidenstoffe in Bursa hergestellt, so ging die lokale Seidenstoffproduktion nach der Aufhebung der Staatsmonopole und des generellen Ausfuhrverbots für Rohseide (1831) bis Mitte des Jahrhunderts um rund 80 Prozent zurück. Derweil erlebte die fabrikindustrielle Rohseidenproduktion dank des Technologie- und Kapitaltransfers aus Europa einen rasanten Aufstieg und versorgte die mechanisierte europäische Seidenindustrie noch Ende des 19. Jahrhunderts mit standardisierten Seidenfäden.

Emanuel Falkeisen war einer der ersten und zentralen Akteure, die bei der Transformation des osmanischen Seidenmarktes zum Rohseidenlieferanten für die europäische Seidenindustrie tatkräftig mitwirkten - wenn auch mit anfänglichen Schwierigkeiten, wie der Journal de Constantinople rückblickend zu berichten wusste:

Nous rappellerons un peu de mots les difficultés que M. Falkeisen éprouva pour arriver à indroduire l'art de filer la soie à un titre regulier, les intrigues sans nombre que les gens du pays, méconnaissant les avantages que cette innovation industrielles leur apportait...

Journal de Constantinople, 1851

Seidenbandproduktion in Basel

Anfang des 19. Jahrhunderts war Basel längst ein etabliertes und international gut vernetztes Zentrum für die Seidenbandproduktion. Hergestellt wurden die als Beiwerk bzw. Accessoires für Frauenbekleidung designten Modeartikel von zwanzig bis dreissig Firmen. Dabei profitierte die exportorientierte Basler Seidenbandindustrie vom Massenmarkt für Bandwaren. Von Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Jahr 1836 stieg die Ausfuhr der Basler Bänder trotz zwischenzeitlicher Krisen (Napoleonische Kriege, Kontinentalsperre) um ein Mehrfaches an.

Organisiert war die Seidenbandproduktion um 1800 als Verlagssystem: Bis in die 1830er Jahre wurden Posamenterinnen und Posamenter auf dem Land von städtischen Handelsfabrikanten beauftragt, die Bänder in Heimarbeit zu weben. Die Anfänge des Verlagssystems gingen auf das 17. Jahrhundert zurück: 1667 hatte Emanuel Hoffmann die so genannte Bändelmühle, die das gleichzeitige Weben von sechs bis 24 Bändern erlaubte, aus Haarlem (Niederlande) geschmuggelt. Der Basler Rat liess wenige Jahre danach (1670) gegen den Widerstand der Zünfte die Nutzung der Bändelmühle auf der Landschaft zu und schuf damit die Rahmenbedingungen für ein exportorientiertes Textilverlagswesen. Während der neue Webstuhl in anderen europäischen Seidenzentren verboten wurde, legte der Rat mit seinem Entscheid den Grundstein dafür, dass Basel innerhalb weniger Jahrzehnte zu den führenden europäischen Produktionszentren von Seidenbändern aufsteigen konnte.

Bändelmühle - Seidenbänder (Muster) - Frauenmode (18. Jh.)

Das Handwerk der Heimweberei hielt sich zwar bis ins 20. Jahrhundert, doch ab Mitte des 19. Jahrhunderts breitete sich in Basel die maschinelle und fabrikindustrielle Bandproduktion aus. Manche Seidenbandfabrikanten, wie etwa Forcart-Weiss & Söhne, hielten allerdings weiterhin am Verlagswesen und an der Heimarbeit fest. Doch die teuren Preise in Piemont und in der Lombardei, Hauptliefermärkte für die Basler Bandfabrikanten, bewogen Forcart-Weiss & Söhne und andere Bandfabrikanten in den 1820er und 1830er dazu, nach alternativen Liefermärkten Ausschau zu halten. In Bursa sollten sie schliesslich fündig werden, auch dank Kontakten zu levantinischen Handelshäusern in Istanbul und Izmir, wobei die Geschäftsbeziehungen nicht zuletzt dank der Initiative letzterer zustande kamen.

1

Forcart-Weiss

Johann Rudolf Forcart-Weiss (1749-1834) gründete 1797 das Unternehmen Forcart-Weiss & Söhne, an der er seine drei ältesten Söhne beteiligte. Der Firmensitz des Familienunternehmens befand sich im Württembergerhof, einem stattlichen Anwesen am St. Albangraben.

2

Burckhardt-Wildt

Ebenfalls im Württembergerhof domizilierte das Unternehmen Burckhardt-Wildt & Sohn. Unter der Leitung von Jeremias Burckhardt-Iselin (1779-1838) nahm das Familienunternehmen in den 1830er Jahren die ersten Kontakte zu levantinischen Handelshäusern auf. 1845 fusionierten die Seidenbandfirmen zu Forcart-Weiss & Burckhardt-Wildt.

3

Alioth

Die berufliche Laufbahn des in Biel geborenen Johann Sigmund Alioth (1788-1850) begann mit einer Lehre bei Forcart-Weiss & Söhne. Danach versuchte er sich, auch dank Vermittlung der Basler Bandherren, als Kaufmann und Fabrikant im Elsass, bevor er nach Basel zurückkehrte und die nach ihm benannte Firma in Basel gründete. Sie war die erste mechanisch betriebene Schappespinnerei Kontinentaleuropas. 1830 verlegte Alioth den Sitz der Firma nach Arlesheim.

Briefe aus dem Osmanischen Reich

Noch vor Emanuel Falkeisens Auswanderung nach Bursa erreichten in den 1820er Jahren die ersten Briefe aus Istanbul und Izmir das Seidenbandunternehmen Forcart-Weiss & Söhne. Einer der ersten Absender war das Handelshaus Jacques Glavany Fils & Co. aus der osmanischen Hauptstadt. Gegenstand des Schreibens war der internationale Seidenhandel. Als Beweggrund nannte Glavany die überteuerten Preise für italienische Seidenwaren, weswegen sein Handelshaus nach preiswerteren Alternativen Ausschau halte und hoffe, bei Forcart-Weiss fündig zu werden. Schliesslich wisse man, «que vous avez des fabriques dans ce genre» und sei daher guter Dinge, einträgliche Geschäfte in beidseitigem Interesse tätigen zu können.

Der erste Brief von Jacques Glavany Fils & Co. an Forcart-Weiss & Söhne (1825)

Nach Erhalt detaillierter Informationen und Muster teilte Glavany allerdings Forcart-Weiss mit, dass nach Seidenbändern weder in der osmanischen Hauptstadt noch generell im Reich eine grosse Nachfrage herrschte. Gleichwohl bot Glavany seine Dienste an, Rohseide auf dem osmanischen Markt zu besorgen, was freilich voraussetzte, dass die Ware aus Bursa für die Bandproduktion geeignet war. Diesbezüglich verwies Glavany auf seinen Agent Alex Autran klären, der sich zu jener Zeit in der Schweiz aufhielt und sich mit dem Seidenmarkt in Bursa bestens auskannte. Aus der darauf folgenden Korrespondenz mit Glavany, Autran sowie Handelshäusern aus Izmir geht hervor, dass aufgrund der staatlichen Restriktionen für den Export von Rohseide eine Sondererlaubnis erforderlich war. Dennoch musste Forcart-Weiss nicht allzu lange auf die bestellte Ware warten: Bereits Anfang des Jahres 1826 wurden die ersten Ballen Rohseide in Istanbul verschifft, während weitere Lieferungen aus Izmir im Herbst desselben Jahres folgten.

In den darauf folgenden Jahren bildete sich ein baslerisch-levantinisches Handelsnetzwerk aus Kaufleuten, Handelsfirmen, Fabrikanten, Agenten und Bankiers in Basel, Wien, Istanbul, Izmir und Bursa. Das gemeinsame Ziel dieses Netzwerkes war der Export von Rohseide aus Bursa und Umgebung nach Basel, während die Basler Seidenbänder auf dem osmanischen Markt vorerst auf keine Nachfrage stiessen.

Wer zählte zum baslerisch-levantinischen Kaufmannsnetz?

Neben den Fabrikanten Forcart-Weiss, Burckhardt-Wildt, die 1845 zu Forcart-Weiss & Burckhardt-Wildt fusionierten (ab 1892: Burckhardt & Co.), und Alioth zählten die ebenfalls aus Basel stammenden Emanuel Falkeisen und Heinrich Flubacher zu den zentralen Akteuren des baslerisch-levantinischen Kaufmannsnetzes. Wie Falkeisen eröffnete auch Flubacher in den 1830er Jahren eine Handelsniederlassung in Bursa und tätigte Kommissionsgeschäfte im Seidenhandel. Ein weiterer wichtiger Akteur war der aus dem Kanton Waadt stammende Burnens, der in Izmir ein Handelshaus betrieb. Zum inneren Kern des Netzwerkes gehörten ausserdem die levantinischen Kaufmannsfamilien Glavany und Bonnal, die zur lokalen Wirtschaftselite in Istanbul beziehungsweise Izmir zählten, der Agent Alex Autran sowie die Wiener Bankhäuser Geymüller & Co. und H. W. Ritter, die für das Kreditgeschäft und die Zahlungsabwicklung zuständig waren. Eine weitaus grössere Zahl an Geschäftspartnern und Dienstleistern in der Schweiz sowie in französischen und italienischen Hafenstädten, die sich um den Transport, die Versicherung, den Warentransit sowie um die Finanzierung von Auslandkrediten kümmerten, bildete den weiteren Kreis des kaufmännischen Netzwerkes, das sich um das Levantegeschäft kümmerte.

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Levantinische Kaufleute im Osmanischen Reich

Kaufleute aus Europa, die sich im Osmanischen Reich niederliessen, gab es seit dem 15. Jahrhundert. Die Ersten, die zum Teil bereits unter byzantinischer Herrschaft eingewandert waren, stammten aus den italienischen Stadtrepubliken Genua und Venedig. Um 1500 kamen von der iberischen Halbinsel vertriebene sephardische Juden, während sich ab dem 16. Jahrhundert zunehmend auch Kaufleute aus Frankreich sowie aus anderen europäischen Staaten niederliessen. Voraussetzung für die kaufmännische Tätigkeit im Osmanischen Reich waren Handels-, Residenz- und Rechtsprivilegien, die die osmanischen Sultane europäischen Kaufleuten seit dem 15. Jahrhundert gewährten. Aus diesen Kapitulationen, wie die Privilegien von Europäern bezeichnet wurden, entwickelte sich im Verlauf der Frühen Neuzeit ein Rahmenwerk, das auf alle europäischen Staaten angewandt wurde und «Grundsätze für das Leben und Arbeiten der christlichen Händlergemeinschaften innerhalb der osmanischen Gesellschaft festlegte». Neben persönlichen Privilegien wie der freien Glaubensausübung enthielten sie die Befreiung von der Kopfsteuer und legten Wohnsituation und Aufenthaltsdauer fest. Dass letztere in der Regel befristet war, ging nicht zuletzt auf restriktive Massnahmen zurück, mit welchen europäische Handelskompanien und Handelskammern versuchten, die Integration ihrer Mitglieder in die osmanische Gesellschaft zu verhindern. So verbot etwa die Handelskammer in Marseille Kaufleuten der französischen Handelskolonie, Familienmitglieder mitzunehmen, Einheimische zu heiraten, beschränkte ausserdem die Zahl der gleichzeitig ansässigen Handelshäuser, die zudem eine hohe Kaution in Marseille hinterlegen mussten. Diese restriktiven Bestimmungen konnten indes nicht verhindern, dass sich im Verlauf der Zeit in Istanbul und Izmir levantinische Gemeinschaften bildeten, die innerhalb der osmanischen Gesellschaft keinen eigenen rechtlichen Status hatten. Vielmehr äusserte sich die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft im gruppeninternen Verhalten. Die Beziehung zur Kirche, interkonfessionelle Heiratsstrategien sowie die Gründung von Handelshäusern wirkten dabei als verwandtschaftliche wie lokale Bindungskräfte und formten die soziale Hierarchie innerhalb der so genannten «Levantiner». Setzten sich levantinische Gemeinschaften zunächst aus katholischen, orthodoxen und jüdischen Familien zusammen, so gesellten sich im Verlauf der Frühen Neuzeit vermehrt auch protestantische Familien hinzu. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierten levantinische Kaufmannsfamilien in Istanbul und Izmir den internationalen Handel und die Diplomatie.

R. Glavany, Angestellter der Osmanischen Bank, um 1900

Glavany

Die Familie Glavany lebte seit dem 18. Jahrhundert in Istanbul und zählte zur städtischen Wirtschaftselite. Im Verzeichnis der an der Börse von Galata aufgeführten Kaufleute war die Familie mit zwei Unternehmen vertreten. Nebst einer Strasse, der Rue Glavany (heute Kallavi Sokak, Beyoglu), wo Angehörige alteingesessener Levantinergeschlechter lebten, trug in Istanbul auch ein Han (Geschäftsgebäude mit Innenhof) ihren Namen, in dem hauptsächlich levantinische und europäische Unternehmen domizilierten. Ausserdem pflegte die Familie enge Beziehungen zur französischen Botschaft: So hatten einige männliche Mitglieder auf der Insel Chios, wo die Familie vor ihrer Migration nach Istanbul gelebt hatte, das Amt des französischen Vizekonsul bekleidet. Auch in Istanbul hatte die Familie regen Kontakt zur französischen Botschaft: So wurde David Glavany gemeinsam mit vier weiteren Kommissionären dazu ernannt, das erste Darlehen zu unterzeichnen, das sich das Osmanische Reich am 11. Oktober 1854 von europäischen Mächten und Banken lieh. Das Unternehmen Jacques Glavany Fils & Co. kontaktierte als eines der ersten levantinischen Handelshäuser in den 1820er Jahren Forcart-Weiss & Söhne.

A. Bonnal, Angestellter der Osmanischen Bank, um 1900

Bonnal

Die Familie Bonnal gehörte dem elitären Kreis der Grosskaufleute von Izmir an und betrieb ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Istanbul ein Handelshaus. Während das in Izmir ansässige Handelshaus Bonnal Frères & Co. in den 1820er Jahren auf Kommissionsbasis für Forcart-Weiss & Söhne Rohseide besorgte, pflegte der Kaufmann J.B. Bonnal, dessen Büro sich im Glavany-Han in Istanbul befand, in den 1850er Jahren Geschäftskontakte mit dem Schappefabrikanten Johann Sigmund Alioth. Im Verlauf der zweiten Jahrhunderthälfte weiteten die Bonnals, wie viele andere levantinischen Grosskaufleute auch, ihre Geschäftsfelder auf das Banken-, Versicherungs- und Schiffswesen aus.

Vernetzte Welten

Kontokorrentbuch der Industriegsellschaft für Schappe, Eintrag 1898: Einkauf von Seidenabfällen. Lieferant Johann Belart Lanz stammte aus Brugg, wanderte 1870 nach Istanbul aus und gründete in den 1880er Jahren eine eigene Seidenspinnerei in Bursa.

Im 19. Jahrhundert gelang es den Bändelherren Produktion und Absatz weiter zu steigern. Ihr Erfolg stützte sich dabei auf ein globales Korrespondenz- und Geschäftsnetzwerk, das ihnen einen unablässigen Informationsaustausch gewährleistete. Damit waren sie imstande, Marktentwicklungen zeitnah zu verfolgen, gegebenenfalls Anpassungen am Produktionsregime vorzunehmen sowie bei Liefer- oder Absatzproblemen auf neue Märkte auszuweichen. Konzentrierten sich Produktion und Handel um 1800 noch auf die europäischen Wirtschaftsräume, so verschob sich der Export aufgrund der neuen Schutzzölle, die sich als Reaktion auf die britische Massenproduktion in Europa verbreiteten, Richtung Übersee und in geringerem Masse auch in die Levante. Während den 1840er Jahren mehr als die Hälfte der Basler Bänder in die USA gelangten, bildete sich im Zuge der zunehmenden Migration aus Europa ab den 1830er Jahren eine städtische Mittelschicht in Istanbul und Izmir, die sich am europäischen Lebensstil orientierte und an Seidenbändern interessiert war. Die ersten Anfragen nach Basler Modeartikeln erreichten den Württembergerhof Ende der 1850er Jahre. Aus der Geschäftskorrespondenz geht hervor, dass das Basler Familienunternehmen vor allem in den 1880er und 1890er Jahren sowie Anfang des 20. Jahrhunderts Bänder an den Bosporus exportierte.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt als das Goldene Zeitalter der Basler Bänder, die zu populären, auf Weltmärkten nachgefragten und an internationalen Messen prämierten Modeartikeln wurden. Der Anteil der Basler Seidenbandindustrie am Weltmarkt dürfte um 1900 rund zehn Prozent betragen haben. Ohne ein funktionierendes Korrespondenz- und Handelsnetz wäre dies kaum möglich gewesen. Neben technologischen Entwicklungen in der Seidenproduktion trugen zwar das Transport- und Kommunikationswesen dazu bei, dass sich lokale Seidenmärkte in den Welthandel integrierten. Aber auch im industriellen Zeitalter und lange nachdem Telegrafie und Dampfschiffe Kommunikation und Transport beschleunigt hatten, blieben Geschäftsbriefe probate Mittel interkultureller Handelspraktiken und der wirtschaftlichen Integration. Das zeigt sich nicht zuletzt an der langen Dauer und der globalen Spannweite des Basler Korrespondenznetzes.

Der Telegraph und die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes haben die Verkaufssaison ausgedehnt, gestatten dem europäischen Industriellen längere Fabrikationszeit und geben ihm keine Veranlassung mehr zu Consignationen … In je kürzerer Zeit die Waare vom Fabrikationsplatze zum Consumenten gebracht werden kann, desto länger wird der Termin, welchen man dem Produzenten für die Erstellung einräumen kann.

Jakob Steiger-Meyer, Schweizer Jurymitglied der Weltausstellung in Wien 1873

Schiffsverkehr

Als Johann Jakob Falkeisen 1843 seine Reise nach Bursa antrat, existierten zwischen den Häfen Marseille und Trieste und den osmanischen Städten Istanbul und Izmir regelmässige Schiffsverbindungen. Die neuen Dampfschiffe des Österreichischen Lloyd (Triest) und der französischen Messageries Maritimes (Marseille) verkürzten seit den 1830er Jahren die zuvor wochenlangen Reisezeiten auf rund zwei Wochen.

Dampfschiffe in Izmir

Ruderboote blieben auch nach der Ausbreitung der Dampfschiffe ein wichtiges Verkehrsmittel in Istanbul

Rohseide & Seidenwaren

Mit den Schiffen kamen nicht nur Menschen, sondern seit dem Freihandelsabkommen von 1838 auch ganze Ballen von Seidenwaren aus Lyon, Mailand und Schweizer Städten in Bursa an. Aus Bursa exportierten wiederum ab den 1830er Jahren europäische und levantinische Kaufleute Rohseide nach Europa. Die Ware wurde von Istanbul und Izmir nach Triest, Genua, Livorno und Marseille verschifft, wobei der Transport (per Segelschiff) inklusive Quarantäne rund drei Monate dauerte.

Türkische Damen aus der osmanischen Oberschicht

Geschäftskorrespondenz und Postverkehr

Ende des 19. Jahrhunderts existierten im Osmanischen Reich sieben verschiedene Postdienste aus ebenso vielen Ländern. Nebst der osmanischen war nur die österreichische Post sowohl auf Land wie auch auf See unterwegs, während alle anderen sich auf die Seepost konzentrierten. Auf dem Landweg erreichten die Briefe aus Basel zunächst Wien und wurden von dort nach Istanbul weiter versandt (vice versa). Mehrere Reedereien betrieben einen Liniendienst, darunter zwei osmanische, fünf britische, zwei französische sowie je eine russische, ägyptische und österreichisch-ungarische Gesellschaft.

Eine Reihe von Zwischenhäfen wie etwa Malta oder Gibraltar profitierten von der neuen Flexibilität der Dampfschiffe, wobei Fahrpläne mit festgelegten Routen für Verlässlichkeit und Regelmässigkeit der Seeverbindungen standen. Die neuen Möglichkeiten des Dampfschiffverkehrs begünstigten auch die Etablierung des telegrafischen Verkabelungsnetz.

Seidene Welt von gestern

Im Jahr 1927, als die Schweiz mit der neu gegründeten Türkischen Republik das erste bilaterale Handelsabkommen abschloss, hielt die Basler Handelskammer in ihrem Jahresbericht fest, dass sich die Bandindustrie in einem «Zustand der schweren und leider wohl nicht mehr ganz heilbaren Krisis» befinde. Die Handelskammer sollte recht behalten. Seit Kriegsausbruch gingen die Exportzahlen für Basler Seidenbänder mit Ausnahme eines zwischenzeitlichen Hochs beständig zurück. «Die nachkriegsbedingte Inflation in wichtigen Absatzgebieten brachte es dann mit sich, dass die Basler Bandfabriken mit den von der Konkurrenz offerierten Preisen kaum mehr Schritt halten konnten.» Gleichzeitig wandelte sich die Kleidermode: Die femme garçonne senkte die Nachfrage nach Seidenbändern drastisch, während die Kunstseide den Weltmarkt eroberte. Wenige Jahre nach dem erwähnten Jahresbericht der Basler Handelskammer wurde die Firma Burckhardt & Co., Nachfolgerin von Forcart-Weiss & Burckhardt-Wildt, liquidiert und im gleichen Jahr (1932) der Württembergerhof abgerissen. Viel früher als für die Basler Bandindustrie engte sich der Handlungsspielraum für levantinische Kaufleute ein. Aufgrund der zunehmenden staatsideologischen Identitätspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sahen sich levantinische Familien in der Spätphase des Osmanischen Reiches dazu gezwungen, Pässe bei europäischen Staaten zu beantragen, um ihren Schutzstatus nicht zu verlieren. Als nach der Gründung der Türkischen Republik Privilegien für europäische Staatsbürger endgültig aufgehoben wurden, entzog der Entscheid vielen levantinischen Familien definitiv die Existenzgrundlage.

Von den einstigen Handelsbeziehungen zwischen der Basler Seidenbandindustrie und levantinischen Handelshäusern zeugen heute die im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv erhaltenen Briefe.

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Literatur

  • Alder, Barbara et al.: Seidenband. Kapital, Kunst und Krise, Liestal 2003.
  • Berchtold, Johannes: Recht und Gerechtigkeit in der Konsulargerichtsbarkeit. Britische Exterritorialität im Osmanischen Reich 1825−1914, München 2009.
  • Burckhardt-Sarasin, Carl: Vertrauliche Mitteilungen aus der Seidenbandindustrie, Basel 1948.
  • Dejung, Christof et. al (Hg.): The Global Bourgeoisie. The rise of the middle classes in the Age of Empire, Princeton/Oxford 2019.
  • Eldem, Ethen: Istanbul: from imperial to peripheralized capital, in: Eldem, Ethen et al. (Hg.): The Ottoman City between East and West. Aleppo, Izmir and Istanbul, Cambridge 1999, 135-206.
  • Erder, Leila Thayer: The Making of Industrial Bursa: Economic activity and population in a Turkish City 1835−1975, Diss., Princeton 1976.
  • Federico, Giovanni: An economic history of the silk industry, 1830−1930, Cambridge 1997.
  • Gossman, Lionel: Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Eine Stadt und vier unzeitgemässe Denker, Basel 2005.
  • Inalcik, Halil: An economic and social history of the Ottoman Empire, Vol. 2, Cambridge 1994.
  • Kasaba, Reşat (Hg.): The Cambridge History of Turkey, Vol. 4, Cambridge 2008.
  • Ma, Debin: The modern silk road: The global raw-silk market, 1850−1930, in: The Journal of Economic History 2/56, 1996, 330−355.
  • Rothstein, Natalie: Silk: the industrial revolution and after, in: Jenkins, David: The Cambridge History of Western Textiles, Bd. 2, Cambridge 2003, 790–808.
  • Schmitt, Oliver Jens: Levantiner. Lebenswelten und Identitäten einer ethnokonfessionellen Gruppe im osmanischen Reich im ‹langen 19. Jahrhundert›, München 2005.
  • Smyrnelis, Marie-Carmen: Une société hors de soi. Identités et relations sociales à Smyrne aux XVIIIe et XIXe siècles, Leuven 2005.
  • Von Steiger, Anne: Les rubans Bâlois (XVIIIe−XXe siècles). Composition de l’offre et mobilité de la demande, Diss., Genf 2012.

 Albert Höflinger, Porträt des Kupferstechers Johann Jakob Falkeisen (1882) 

Der erste Brief von Jacques Glavany Fils & Co. an Forcart-Weiss & Söhne (1825)

Kontokorrentbuch der Industriegsellschaft für Schappe, Eintrag 1898: Einkauf von Seidenabfällen. Lieferant Johann Belart Lanz stammte aus Brugg, wanderte 1870 nach Istanbul aus und gründete in den 1880er Jahren eine eigene Seidenspinnerei in Bursa.

R. Glavany, Angestellter der Osmanischen Bank, um 1900

A. Bonnal, Angestellter der Osmanischen Bank, um 1900

Dampfschiffe in Izmir

Ruderboote blieben auch nach der Ausbreitung der Dampfschiffe ein wichtiges Verkehrsmittel in Istanbul

Türkische Damen aus der osmanischen Oberschicht