Auf der Suche nach der Menschenwürde

Wie sich die katastrophalen Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Jahr 2023 und ihre Nachbeben auf das Leben der Einwohner auswirken und alles, was ihnen die Stadt bedeutete.

Das englische Original und die türkische Übersetzung dieser StoryMap sind unten durch Klicken auf die Version in der entsprechenden Sprache verfügbar.

Die Stadt Antakya vor dem 6. Februar 2023. © Jens Kreinath

Am 6. Februar 2023 erschütterte um 4:17 Uhr morgens ein verheerendes Erdbeben die Südtürkei und Nordsyrien, gefolgt von einem zweiten Beben in den frühen Nachmittagsstunden um 13:24 Uhr. Etwa eine halbe Million Menschen, die in der Stadt lebten, verloren innerhalb von Sekunden Familienmitglieder, Häuser, Geschäfte und fast ihr gesamtes Hab und Gut. Mehrere weitere schwere Erdbeben sollten die Überreste von Antakya in den kommenden Wochen erschüttern.

Die Menschen starben wegen der Gebäude, nicht wegen des Erdbebens, so eine gängige Redewendung der Überlebenden. In den folgenden Wochen füllten sich mehr und mehr Felder der neu angelegten und eilig improvisierten Massenfriedhöfe. Große Teile der Bevölkerung verließen die Stadt. Einige überlebten die verbleibenden Wintermonate ohne fließendes Wasser in notdürftigen Zelten oder behelfsmäßigen Containerstädten.

Staubige Straßen und unbewohnte Viertel waren erfüllt vom ständigen Lärm der Bagger und riesigen Lastwagen. Sie transportierten Betonschutt aus der Stadt und luden alle persönlichen Überreste der früheren Bewohner auf Müllhalden ab.

Inmitten von Abriss und Wiederaufbau versuchen die Bewohner von Antakya, ihr Leben wieder aufzubauen. © Jens Kreinath.

Hunderttausende mussten die ersten Tage in ihren Autos bei Temperaturen am Gefrierpunkt und noch in den kommenden Wochen in Zelten nahe den Ruinen von Antakya überleben, ohne Zugang zu fließendem Wasser, Strom oder anderer materieller Infrastruktur. Da viele keine andere Bleibe hatten, leben sie weiterhin neben den Trümmern ihrer zerstörten Häuser und Stadtteile.

Antakya als lebendige Stadt ist nun verschwunden. Sie verwandelte sich langsam in eine Geisterstadt, in der jegliche Orientierungspunkte und selbst die entferntesten Erinnerungen an vertraute Orte jetzt für immer verloren sind.

Ein krasser Unterschied zwischen den vom Erdbeben völlig zerstörten Gebäuden und den intakten mehrstöckigen Bauten nur wenige Blocks entfernt. © Jens Kreinath.

Die Erdbeben und ihre anhaltenden Nachbeben, hinterließen aber deutlich mehr Todesopfer als die offiziell angegebene Zahl von insgesamt etwa 53.000 und 20.000 in Antakya sowie die völlige Zerstörung des historischen Teils der Stadt. Die langfristigen Auswirkungen dieses Erdbebens auf die vielfältige lokale Bevölkerung sind immens  unvorstellbar mit immensen Zahlen an Obdachlosen, Arbeitslosen und Behinderten, während die Anzahl der von den Erdbeben Betroffenen in die Millionen geht.

Alles, was von der Stadtbibliothek im Cumhuriyet Mahallesi, Antakya, übrig geblieben ist © Jens Kreinath

Erdbeben #1: 4:17 Uhr TRT [1:17 UTC], 6. Februar 2023

Stärke 7,8*. Das erste Erdbeben, das Antakya erschütterte, traf auch die Regionen der Südtürkei und Nordsyriens. Es folgten unmittelbar noch innerhalb der ersten halben Stunde drei starke Nachbeben mit der Stärke 5,7, 6,7 und 5,6 sowie zwei weitere vor dem nächsten größeren Erdbeben am frühen Nachmittag. In einem plötzlichen Moment zerstörten die Erdbeben das gesamte Gefüge einer Lebensweise und ließen Hunderttausende, wenn nicht Millionen, von Einwohnern nur den Schmerz über das, was ihnen widerfahren war. *Die 1935 entwickelte Richterskala ist eine logarithmische Skala und misst die Stärke eines Erdbebens durch Analyse der Bodenbewegung, der physikalischen Effekte und der Amplitude der seismischen Wellen. Sie weist einen numerischen Wert in dezimaler Form zu, um die Größe des Erdbebens zu quantifizieren, was bedeutet, dass jede ganzzahlige Zunahme der Stärke eine 10-fache Zunahme der von einem Erdbeben freigesetzten Energie darstellt. (United States Geological Survey).

Erdbeben Nr. 2: 13:24 Uhr TRT [10:24 UTC], 6. Februar 2023

Stärke 7,7. Diese ersten beiden Erdbeben waren in der gesamten Türkei und im östlichen Mittelmeerraum zu spüren. Auch dieses Beben, wie das erste, war in der gesamten Türkei und dem östlichen Mittelmeerraum zu spüren. Ihm folgten zehn starke Nachbeben im Laufe des Nachmittages und am frühen Abend sowie fünf weitere in den beiden folgenden Tagen. In den ersten Tagen war das unmittelbare Medieninteresse groß. Notfallhilfe und Rettungsteams trafen aus vielen Teilen der Welt ein. In einigen Regionen traf jedoch erst nach Tagen oder Wochen, wenn nicht gar Monaten, staatliche Hilfe ein.

Staatliche Hilfe wird geleistet: 9. Februar 2023

Eine nationale Katastrophe ist nie für diese Region ausgerufen worden. Drei Tage lang nach den tödlichen Erdbeben erhielten die fast eine halbe Million betroffenen Menschen in der Region um Antakya keine staatliche Hilfe. In den Tagen, bevor die Regierung eingriff, mussten viele ihre Angehörigen aus den Trümmern retten, oft mit ihren eigenen Händen. Zahlreiche Todesfälle hätten verhindert werden können, wenn sofortige staatliche Hilfe zur Verfügung gestanden hätte.

Erdbeben Nr. 3: 20:04 Uhr TRT [17:04 UTC], 20. Februar 2023

Stärke 6,3. Zu dieser Zeit füllten eilig angelegte Friedhöfe und provisorische Unterkünfte die Räume zwischen den Gebäuderesten. Das Ausmaß von Tod und Verzweiflung, das durch dieses beiden weitere Erdbeben, die anhaltende Nachlässigkeit der Regierungen und die ständigen Nachbeben verursacht wurde, wurde war apokalyptisch.

Erdbeben Nr. 4: 12:04 Uhr TRT [9:04 UTC], 27. Februar 2023

Stärke 5,2. Allein im Februar, dem letzten für diesen Monat, gab es in der Region mehr als zwanzig starke Nachbeben mit einer Stärke von jeweils über 5,3 auf der Richterskala - eine Stärke, die als mittel starkes bis starkes Erdbeben oder Nachbeben eingestuft wird. In den ersten Monaten nach dem ersten Erdbeben wurden mehr als vierzig solch starker Nachbeben registriert. Auch kleinere Nachbeben traten weiterhin auf, wobei in den ersten drei Monaten über 30 000 und innerhalb von neun Monaten nach dem ersten Beben mehr als 50 000 Nachbeben registriert wurden.

Diese Erdbeben und deren Nachbeben verwüsteten 85 % von Antakya. Nur ein paar verstreute Häuser blieben stehen, umgeben von einem Ödland aus abgeflachtem Boden und zerstörten Betonstrukturen. Zahlreiche Familien mussten schließlich mit ihrem wenigen verbliebenen Hab und Gut in andere Orte in der Türkei umziehen und dort für die nächsten Monate bei ihren Familienmitgliedern oder Verwandten unterkommen, wenn sie die Mittel dazu hatten. Diejenigen, die keine andere Bleibe hatten, mussten nach diesen Erdbeben mehr als ein Jahr oder sogar noch länger in untragbaren Zelten oder Containern ausharren.

*Die 1935 entwickelte Richterskala ist eine logarithmische Skala und misst die Stärke eines Erdbebens durch Analyse der Bodenbewegung, der physikalischen Effekte und der Amplitude der seismischen Wellen. Sie weist einen numerischen Wert in dezimaler Form zu, um die Größe des Erdbebens zu quantifizieren, was bedeutet, dass jede ganzzahlige Zunahme der Stärke eine 10-fache Zunahme der von einem Erdbeben freigesetzten Energie darstellt. (United States Geological Survey).

Multikulturalität in Antakya

Mit seinem jahrhundertealten christlichen Erbe und den gleichermaßen geschätzten jüdischen und muslimischen Gemeinden verfügte Antakya über eine einzigartige Kultur des religiösen Zusammenlebens. Diese hat sich trotz zahlreicher Konflikte über Jahrhunderte gehalten.

Die Beziehungen zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften waren freundschaftlich und herzlich, insbesondere zwischen den religiösen Minderheiten.

Antiochien ist, historisch gesehen, die Wiege des Christentums. Die Stadt, die heute als Antakya bekannt ist, war der Ort, an dem die Christen das erste Mal Christen genannt wurden (Apostelgeschichte 11, 19-26), sowie der Ausgangspunkt für das Leben die Verbreitung des Christentums durch von Petrus und Paulus (Apostelgeschichte 15, 22-41; 18, 18-22).

Die Grotte von Sanpiyer Kilisesi, die nahe gelegenen Höhlen und die Petruskirche (siehe Bild 1) stehen für das kontinuierliche Erbe des Christentums in Antakya.

Eine Vielzahl lokaler Konfessionen feiert die jährlichen Feste von St. Peter und St. Paul. Diese Feste werden als integraler Bestandteil der lebendigen Tradition des religiösen Zusammenlebens in der Stadt anerkannt.

Die architektonische und religiöse Geschichte Antakyas spiegelt eine komplizierte Geschichte wider, die Islam und Christentum miteinander verbindet.

Eine Geschichte aus dem Koran mit dem Titel "Die Geschichte der Gefährten der Stadt" beschreibt die Einführung des Christentums im damaligen Antiochien in der Habib'i Neccar Camii (Moschee), die hier abgebildet ist. Diese Geschichte endete mit einem Erdbeben, das die Stadt als Strafe Allahs für die Unwissenheit und den Unglauben ihrer Bewohner gegenüber den drei Gesandten des Wortes Gottes zerstörte (Q. 36,13-29).

Viele wichtige heilige Stätten der Anbetung und Verehrung, wie die Sanpiyer Kilisesi und die Habib'i Neccar Camii, sind ein gemeinsames religiöses Erbe, ein integraler Bestandteil der Kultur und Geschichte von Antakya.

Die jüdische Gemeinde in Antakya war zwar klein, aber eng und freundschaftlich mit anderen Gruppen in der Stadt verbunden. Muslimische und jüdische Nachbarn vertrauten einander so sehr, dass sie ihre Geschäfte einander anvertrautenüberließen, wenn sie ihren religiösen Verpflichtungen nachkommen mussten.

Die Koexistenz dieser drei monotheistischen Religionen in so unmittelbarer Nähe galt als Höhepunkt des so genannten abrahamitischen Dreiecks, in dem eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee fast in Sichtweite und in unmittelbarer Entfernung zueinander lagen.

Die Altstadt von Antakya war wie ein multiethnisches und multireligiöses Mosaik, in dem sich arabische und türkische Sprachen und Kulturen, Küche, Essen und Musik vermischten, wobei alle eng miteinander verbunden und doch fein differenziert waren.

Die nachstehende interaktive Karte bietet einen Überblick über die Überreste von Antakya anhand von Bildern, die sechs Monate nach den verheerenden Erdbeben im August 2023 und etwa zwei Jahre danach anlässlich des zweiten Gedenkjahres im Februar 2025 aufgenommen wurden. Bitte blättern Sie durch die einzelnen Seiten und klicken Sie auf ein Bild, um es im Vollbildmodus zu betrachten. Die Pfeile rechts neben einigen Bildern zeigen eine Reihe von Fotos an, die mehrere Blickwinkel auf die Trümmer zeigen.

"Wir haben gesehen, wie sich die Tore der Hölle vor unseren Augen geöffnet haben."

Zu viele Menschen haben ihr Leben verloren, zu viele Häuser, Siedlungen und Gebäude wurden zerstört. Orte sozialer Zusammenkünfte und gemeinsamer religiöser Heiligenverehrung gibt es nicht mehr, und zahlreiche Mitglieder der örtlichen Gemeinschaften sind umgekommen oder in andere Teile der Türkei und der Welt verstreut. Die Einwohner von Antakya überleben tagtäglich unter unmenschlichen Bedingungen.

Die Menschen, die in Antakya gearbeitet und gelebt haben, laufen nun Gefahr, ihre Geschichte, ihre Identität und ihr Gedächtnis Kultur zu verlieren, da es an Infrastrukturen und den damit verbundenen materiellen Ressourcen fehlt.

Trotz der offensichtlichen Widrigkeiten wird mit einem Ton der Resilienz bekräftigt, dass Antakya durch mehrere Erdbeben zerstört worden sei, aber wieder auferstehen werde.

Das Bild von Antakya als einer multikulturellen Stadt mit interreligiösen Beziehungen ist in der Vorstellung der Überlebenden des Erdbebens noch immer stark präsent.

Unzählige Angehörige der verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften arbeiten zusammen, um die Stadt Antakya so wieder aufzubauen, wie sie sie sich aus der Vergangenheit vorstellen.

Dieses Foto wurde in der regnerischen Nacht des Mittwochs, 5. Februar 2025, an der Gedenkstätte für Uğur Mumcu (1942-1993) in Antakya aufgenommen. Es zeigt eine feierliche, stille Mahnwache. Die Versammlung gedenkt der Toten und erinnert an den zweiten Jahrestag des verheerenden Erdbebens, das die Stadt erschütterte. Die eingravierten Worte "Wir haben nicht vergessen" und "Wir werden nicht vergessen" spiegeln das Gefühl des anhaltenden Verlusts und der bleibenden Erinnerung wider.

Aktuelle Informationen zu den jüngsten Entwicklungen im Vorfeld der Gedenkfeier am 5. Februar 2025 und zu den laufenden Bemühungen um den Wiederaufbau der Stadt und ihrer Gemeinden werden in Kürze veröffentlicht. Diese Aktualisierungen werden kurze Beschreibungen zuverlässiger Projekte und Initiativen enthalten, die ich während meines Besuchs im Februar 2025 besichtigt oder von denen ich direkt erfahren habe. Außerdem werden darin Links zu ihren Websites und Informationen darüber, wie man ihre Spendenaktionen unterstützen kann, enthalten sein.

Wenn Sie mich bei meinen Bemühungen um den Wiederaufbau lokaler Gemeinschaften unterstützen möchten, können Sie die Spendenaktion über diesen  Hyperlink  aufrufen.

Berichte über meine vorherige Arbeit und Interviews in Wichita über die Situation in Antakya finden Sie in den Zeitungsartikeln der Sunflower vom  19. Februar ,  21. Februar  und  28. Februar   2023  oder in den WSU News vom  18. November 2024 .

Wenn Sie uns Rückmeldungen geben oder Ihre eigene Geschichte, Informationen über weitere Projekte oder historische wie aktuelle Fotos zur Verfügung stellen möchten, kontaktieren Sie mich bitte unter:  Jens.Kreinath@wichita.edu .

Alle Texte: © Jens Kreinath. 2024. "In Search for Human Dignity: Die Erdbeben vom 6. Februar 2023 und ihre Auswirkungen auf die interreligiösen Beziehungen in Antakya, Hatay." Mission Studies 41 (3):442-480. doi: https://doi.org/10.1163/15733831-12341992. Bearbeitet von Kaitlyn Reis. StoryMap erstellt von Kaitlyn Reis. Alle Fotonachweise: © Jens Kreinath.

Das  englische  Original, und den Verweis auf die  deutsche  und  türkische  Version des Artikels finden Sie, indem Sie auf die Links in der jeweiligen Sprache klicken.

Dieses Foto wurde in der regnerischen Nacht des Mittwochs, 5. Februar 2025, an der Gedenkstätte für Uğur Mumcu (1942-1993) in Antakya aufgenommen. Es zeigt eine feierliche, stille Mahnwache. Die Versammlung gedenkt der Toten und erinnert an den zweiten Jahrestag des verheerenden Erdbebens, das die Stadt erschütterte. Die eingravierten Worte "Wir haben nicht vergessen" und "Wir werden nicht vergessen" spiegeln das Gefühl des anhaltenden Verlusts und der bleibenden Erinnerung wider.

Die Stadt Antakya vor dem 6. Februar 2023. © Jens Kreinath

Inmitten von Abriss und Wiederaufbau versuchen die Bewohner von Antakya, ihr Leben wieder aufzubauen. © Jens Kreinath.

Ein krasser Unterschied zwischen den vom Erdbeben völlig zerstörten Gebäuden und den intakten mehrstöckigen Bauten nur wenige Blocks entfernt. © Jens Kreinath.

Alles, was von der Stadtbibliothek im Cumhuriyet Mahallesi, Antakya, übrig geblieben ist © Jens Kreinath