Ruanda: Kaffee – die Kuh, die niemals abstürzt?

Kaffeeliebhaberinnen und Händler schwärmen von einem der besten Kaffees weltweit: Spezialitätenkaffee aus 100 Prozent Arabica, angebaut und handgelesen von Kleinproduzent*innen und oft: «aus Frauenhand!». Kurz, es geht um Kaffee aus Ruanda. Was aber ist an der gut klingenden Story wirklich dran? Ein CDE-Forschungsteam ist ihr auf den Grund gegangen.

Frauen transportieren Material zur Bereitstellung von Kaffeesetzlingen.

Der Anfang: eine Mission der Missionare

Ruanda. Wir schreiben das Jahr 1904. Deutsche Missionare führen gerade die ersten Kaffeepflanzen ein. Keine drei Jahrzehnte später – inzwischen haben die Belgier als neue Kolonialmacht die Produktion, teils mit Anbauzwang, intensiviert – gehen die ersten Kaffeesäcke in den Export. Schon bald wird das Produkt zum Exportschlager und ist es bis dato – hinter dem später eingeführten Tee sowie Rohstoffen aus dem Bergbau – auch geblieben.

Junge Kaffeepflanzen

Vom kolonialen Erbe über …

Dazu beigetragen hat auch das Marketing der Missionare. Ein alter ruandischer Bauer, den wir hier Jean-Pierre nennen, erzählt die Geschichte heute so:

«Als die Weissen kamen, sagten sie den Bauern, die viel Vieh hatten: ‘Die Kühe, die du da hast, die werden einmal sterben. Das hier ist die neue Kuh, die dir wir geben: Kaffee. Wir geben dir eine Kuh, die nicht (vom Berg) abstürzen kann. Du wirst diese Kuh besitzen und während vieler Jahre melken, anders als deine jetzigen Kühe.’ So kam der Kaffee hierher.»

Viehmärkte wie hier in Bitaba, Nyamasheke, haben in Ruanda eine lange Tradition. Die traditionelle Hausrind-Rasse ist das ostafrikanische Ankole-Rind.

... den globalen Cash Crop ...

Nach seiner Unabhängigkeit 1962 hält Ruanda weiter am Kaffeeanbau fest. Noch in den 1970er und 1980er Jahren machen die Kaffeekirschen, grösstenteils von Kleinbauernfamilien produziert, 60 bis 80 Prozent der Exporteinnahmen aus. Ebenfalls 1962 kommt das erste «International Coffee Agreement» zustande, ein Abkommen zwischen den Kaffee produzierenden Ländern und den Abnehmerstaaten. Das Ziel: den Kaffeepreis stabil zu halten.

Das ging mehr oder weniger gut bis 1989, dann ging das Abkommen in die Brüche. In der Folge wurde der Anbau weltweit angekurbelt, auf weitere Länder wie Vietnam ausgedehnt – die Preise kollabierten. Hunderttausende von kaffeeanbauenden Kleinbauernfamilien in Entwicklungs- und Schwellenländern verloren im Zug dieser Krise ihre Lebensgrundlagen.

Blick auf einen der speziell dekorierten Bögen anlässlich der Erlangung der Unabhängigkeit am 1. Juli 1962

… in die Krise

Auch in Ruanda war die angeblich nimmermüde «Kuh» der Missionare nun doch abgestürzt; mit ein Grund, weshalb das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise schlitterte. Dass Anfang der 1990er Jahre rund 300’000 ruandische Bäuerinnen und Bauern ihre Kaffeestauden ausrissen, spricht Bände für die damalige soziale und wirtschaftliche Situation.

Die Krise findet am Vorabend des Völkermords von 1994 statt, dem zwischen 500'000 und einer Million Menschen zum Opfer fielen – und der seine Spuren bis heute hinterlässt.

Der neue Plan

Nach dem Genozid ging es der neuen Regierung unter dem heutigen Präsidenten Paul Kagame zunächst um die Festigung der Macht. Doch der Kaffeesektor sollte schon bald zu einem staatsaufbauenden Projekt beitragen: einem stabilen Staat, der Armut dank Wirtschaftswachstum beseitigt.

Ein zentraler Pfeiler dieser Politik ist der Versuch, das Land aus der traditionellen Subsistenzlandwirtschaft hin zu einer kommerziellen Landwirtschaft zu führen; marktorientiert und produktiv soll sie sein. Die damit wegfallenden Arbeitsplätze sollen von einem urbanen Dienstleistungssektor absorbiert werden, dessen Aufbau man vorantreiben will.

Symbolisiert Glück und Frieden (Blau), wirtschaftliche Entwicklung (Gelb) sowie Hoffnung auf Wohlstand (Grün): die Flagge Ruandas ab 2001

Ruanda hat 2004 tiefgreifende Landreformen eingeleitet. Zuvor waren rund 90 Prozent des landwirtschaftlichen Landes im traditionellen Gewohnheitsrecht vergeben, was bei stark zunehmender Bevölkerung – das Land weist mit 546 Einwohner*innen pro Quadratkilometer eine mehr als doppelt so hohe Bevölkerungsdichte wie die Schweiz aus – zu Konflikten Anlass bot. Mit den Zielen, allen Einwohner*innen dasselbe Recht auf Zugang zu Land zu ermöglichen und die Produktivität der Landwirtschaft zu steigern, wurden ab 2008 Grundstücke landesweit erfasst und verbriefte Landtitel vergeben. Damit einher gingen eine Liberalisierung und Privatisierung. Diese schuf neue Ungleichheiten. Denn nur ein Teil der landwirtschaftlichen Grundstücke wiesen die geforderte Minimalgrösse für den Eintrag ins Grundbuch auf und selbst wenn diese Bedingung erfüllt war, konnten sich viele dies finanziell nicht leisten.

Kleinstparzellen prägen die Landschaft von Nyamasheke, das an den Kivusee grenzt.

Unter diesen Vorzeichen setzt das Land punkto Kaffee seit geraumer Zeit auf Spezialitätenerzeugnisse. Sie erzielen nicht nur höhere Preise als normaler Kaffee, sondern erhalten kraft ihrer guten Qualität auch überschwängliche Prädikate in den Hauptabnehmermärkten Europa und USA. Ein gutes Zeichen für all die Kleinproduzent*innen – sollte man meinen.

Land oder Arbeit

CDE-Studien im Kernland von Ruandas Kaffeeanbau, dem Distrikt Nyamasheke im Südwesten Ruandas (siehe Karte), zeichnen ein differenzierteres Bild. Die Forschenden haben untersucht, wie sich der Strukturwandel in der Landwirtschaft auf die lokale Bevölkerung auswirkt, insbesondere auf die Frauen.

Eine zentrale Rolle dabei spielen die Besitz- und Arbeitsverhältnisse in Nyamasheke. Zwar verfügt dort fast jeder Haushalt über etwas Land. Aber dieses beschränkt sich durchschnittlich auf 0,36 Hektar, und: 50 Prozent der Haushalte besitzen gerade mal 600 Quadratmeter – zu wenig, um darauf noch Kaffee zu produzieren. Selbst Familien, die mehr Land haben, stehen vor einer grossen Herausforderung: «Neu angebaute Kaffeepflanzen werfen erstmals nach drei bis vier Jahren eine Ernte ab. Für viele dauert das zu lange, um sich während dieser Zeit über Wasser halten zu können», sagt Patrick Illien, der die Studie in Zusammenarbeit mit CIAT Ruanda vor Ort durchgeführt hat.

Die Teilpacht und die Ungleichheit

Weil die Landknappheit mitunter wegen der starken Bevölkerungszunahme immer akuter wird, sind Kleinstbäuerinnen und -bauern meist auf saisonale Lohnarbeit, zum Beispiel bei «grösseren» Kaffeebauern oder auf einer der rund 12 Grossplantagen im Distrikt Nyamasheke, angewiesen. Oder auf ein spezielles System der Landpacht, Nyiragabana.

Dabei pachtet eine Seite per Handschlag ein Stück Land, kommt für Saatgut und Dünger auf, leistet die gesamte Arbeit – und teilt die Ernte mit den Landbesitzern, selber oft nur Kleinbauern, für gewöhnlich 50:50 auf. Produziert werden auf solchen Feldern Grundnahrungsmittel wie Maniok, Bohnen oder Süsskartoffeln für den Eigenbedarf.

Mikrokapitalismus

Die Pacht ist jedoch an den Anbau vereinbarter Kulturen und Ernte-Termine gebunden, was es den Pächter*innen verunmöglicht, das Feld nach eigenem Gutdünken zu bestellen: «Ich gehe einfach hin, denn ich habe keine Wahl. Da gibt es nichts, über das ich nachdenken muss», beschreibt Josephine, eine verwitwete Mutter von zwei Kindern, die kaum eigenes Land hat, ihre Möglichkeiten. Dabei kommt auch zum Ausdruck, dass selbst unter den ärmsten Haushalten Klassenunterschiede wichtig sind, die Ausbeutung und Akkumulation – sprich soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten – verschärfen. Eine Situation, die die Wissenschaftler*innen als «Mikrokapitalismus» beschreiben.

Viele Kleinstbäuerinnen und -bauern müssen noch einer Lohnarbeit auf andern Feldern nachgehen: Reisfeld in Nyamasheke

Laut offiziellen Angaben hat Nyamasheke den  höchsten Anteil an kaffeeproduzierenden Haushalten  und die  höchste Anzahl an Kaffeepflanzen Ruandas . Trotzdem leben hier 70 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, was die Region zur ärmsten des Landes macht. Wenn nach der Kaffeeernte die Nachfrage nach Arbeitskräften jeweils zurückgeht, sinken auch die Tageslöhne für Gelegenheitsarbeiten auf lokalen Farmen von rund 0,91 US$ auf rund 0,69 US$. Gleichzeitig liegen in dieser «mageren» Jahreszeit auch die eigenen Felder der Kleinbäuerinnen und -bauern brach. Viele Haushalte sind dann nicht mehr in der Lage, die Familie zu ernähren. Entgegen der landläufigen Meinung, die Bezahlung in Naturalien oder das spezielle System der Landpacht seien archaisch oder feudalen Verhältnissen geschuldet, sind diese, so die Forschenden, «Ausdruck von begrenzter Monetarisierung und zunehmendem Druck auf Land unter vorherrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen».

Moderne Strassen kontrastieren mit der Armut breiter Bevölkerungsteile in Nyamasheke.

Die Situation der Frauen? Besonders prekär

«Gerade Frauen sind in diesem System zusätzlich benachteiligt», erläutert Patrick Illien. «Sie verdienen durchwegs weniger als Männer, bekommen seltener eine bessere Arbeit – und mangels Alternativen müssen sie ihre Kinder oft mit zur Arbeit nehmen.» Letzteres diene einigen Arbeitgebern als Begründung, weshalb sie lieber Männer als Frauen anheuerten, anderen als Argument, warum sie Frauen tiefer entlöhnten.

Für Frauen – in Ruanda sind teils als Folge des Genozids ungefähr ein Drittel der ländlichen Haushalte von ihnen geführt – ist es auch deutlich schwieriger, überhaupt zu Land zu kommen. Denn obwohl den Männern rechtlich gleichgestellt, stellen patriarchale Gesellschaftsnormen eine sehr hohe Hürde dar, damit Frauen Land erben oder gleichberechtigt nutzen können. Auch gemeinsamer Landbesitz ist vielen verwehrt, da das ruandische Gesetz dafür den offiziellen Eintrag der Ehe verlangt – was beispielsweise wegen kostspieliger Hochzeitszeremonien und/oder Polygamie in einem Drittel der Fälle nicht stattfindet.

Ruanderin bei harter Feldarbeit

Und was, wenn sich Frauen zusammenschliessen? Tatsächlich gibt es in Ruanda einige von Frauen geleitete Produktionsgemeinschaften oder Genossenschaften, gerade im Kaffeesektor. Doch von den zahlreichen Anpreisungen ruandischen Spezialitätenkaffees im Web, die eine durchwegs gleichberechtigte Teilhabe der Frauen nahelegen, ist die Realität zumindest in der Kaffeehochburg Nyamasheke noch weit entfernt.

Das Potenzial von Kaffee für die ärmsten Bevölkerungsteile nutzbar machen

Dennoch sollte man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, schliesst Patrick Illien aus den Forschungsergebnissen: «Kaffee hat eine solch wichtige wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Bedeutung erlangt, dass dieser Cash Crop in Ruanda nicht mehr wegzudenken ist.» Denn obwohl Kaffee unter anderem anfällig für Krankheiten und Preisturbulenzen auf dem Weltmarkt sei, sei gerade der Lebensunterhalt armer Haushalte eng mit diesem Sektor verwoben.

Arbeit auf Waschstationen ist tendenziell besser bezahlt: Auffangen ausgeschwemmter Bohnen (links), und Vorbereitung für die Trocknung an der Sonne (rechts).

In gewissem Sinn mag Kaffee also tatsächlich «die Kuh sein, die niemals abstürzt». Aber, so unterstreicht der Wissenschaftler: «Solange der Druck auf den Boden weiter zunimmt, die lokalen, wertsteigernden Verarbeitungsmöglichkeiten unterbenutzt und angemessene landwirtschaftliche Arbeitsplätze die Ausnahme sind, wird sein armutsminderndes Potenzial begrenzt bleiben.»

Umso wichtiger sei es daher, den Raum für politische Initiativen und kollektives Handeln auszuschöpfen, um das «Potenzial des Kaffees für alle nutzbar zu machen».

Mehr zum Thema

Illien, Patrick; Pérez Niño, Helena; Bieri Sabin (2022).  Agrarian class relations in Rwanda: a labour-centred perspective 

Patrick Illien ist Associated Senior Research Scientist am CDE, Universität Bern, und Postdoctoral Researcher an der ETH Zürich.

CREDITS

© Centre for Development and Environment (CDE), Universität Bern

Text und Produktion: Gaby Allheilig

Fotos: Patrick Illien, wikimedia commons, shutterstock.com, UN Photo/BZ

Karte: Lukas Würsch